Herr Palomar
auch aus der Tiefe seiner reglosen resignierten Trägheit, ein Bild von Kraft.
Bevor Herr Palomar zur Vitrine des Iguana iguana gelangt ist, hat er die mit den zehn kleinen übereinanderkrabbelnden Leguanen betrachtet, die mit geschickten Bewegungen ihrer Ellenbogen und Knie unablässig die Position wechseln und sich allesamt in die Länge strecken: die Haut von einem glänzenden Grün, ein kupferfarbenes Pünktchen an der Stelle, wo Fische die Kiemen haben, ein weißer Kammbart und helle Augen, weit offen rings um die schwarze Pupille. Dann die Steppen-Warane, die sich im Sand von gleicher Farbe verstecken, die schwarzgelben Tejus oder Tupinambis, fast schon Krokodile, die afrikanischen Gürtelschweife mit stachligen Schuppen, dicht wie ein Pelz oder Laub, sandfarben und so konzentriert in ihrem Bemühen, sich von der Welt abzuschließen, daß sie sich einkringeln und den Schwanz auf den Kopf legen. Der oben graugrüne, unten weiße Panzer einer Meeresschildkröte wirkt im Wasser eines Aquariums fleischig und weich, der spitze Kopf ragt hervor wie aus einem Stehkragen.
Das Leben im Pavillon der Reptilien erscheint wie eine Verschwendung von Formen ohne Stil und Plan, in der alles möglich ist: Tiere und Pflanzen und Steine tauschen miteinander Schuppen und Stacheln und Krusten aus, doch von der unendlichen Zahl der möglichen Kombinationen gerinnen nur einige – vielleicht gerade die allerunglaublichsten – zu einer festen Form, widerstehen dem Fluß, der sie zersetzt und durcheinanderwirbelt und neugestaltet, und sofort wird aus jeder dieser Formen der Mittelpunkt einer Welt, für immer getrennt von den anderen, wie hier in den aneinandergereihten Zoo-Vitrinen, und in dieser endlichen Zahl von Seinsweisen – jede identifiziert in einer ihr eigenen Monstrosität und einer ihr eigenen Notwendigkeit und einer ihr eigenen Schönheit – besteht die Ordnung, die einzige Ordnung, die in der Welt zu erkennen ist. Der Leguan-Saal im Jardin des Plantes, mit seinen illuminierten Vitrinen, in denen Reptilien im Halbschlaf sich zwischen den Zweigen und Felsen ihres heimischen Waldes oder im Sand ihrer Wüste verbergen, spiegelt die Ordnung der Welt, sei sie der Reflex des Ideenhimmels auf Erden oder die äußere Erscheinungsform des geheimen Wesens der Dinge, der verborgenen Norm am Grunde des Seienden.
Ist es dieses Klima, mehr als die Reptilien selbst, was Herrn Palomar dunkel anzieht? Eine feuchte und weiche Wärme durchtränkt die Luft wie einen Schwamm; ein scharfer, schwerer, fauliger Geruch zwingt einen, den Atem anzuhalten; Licht und Schatten stagnieren in einer reglosen Mischung aus Tagen und Nächten: Sind dies die Eindrücke, die man gewinnt, wenn man einen Blick ins Außermenschliche wagt? Hinter der Scheibe einer jeden Vitrine zeigt sich die Welt, wie sie war, bevor der Mensch existierte, oder wie sie nach ihm sein wird, um zu beweisen, daß die Welt des Menschen nicht ewig ist und nicht die einzige. Ist es das, was Herr Palomar sich vor Augen führen will, wenn er diese Terrarien inspiziert, in denen die Pythons und Boas schlafen, die Klapperschlangen aus Indien und die Baumnattern von den Bermudas?
Doch von den Welten, aus denen der Mensch ausgeschlossen ist, zeigt jede Vitrine nur ein winziges Ansichtsmuster, herausgerissen aus einem natürlichen Zusammenhang, der ebensogut auch nie existiert haben könnte, wenige Kubikmeter Atmosphäre, die von ausgetüftelten Apparaten auf bestimmten Temperatur- und Feuchtigkeitsgraden gehalten werden. Also wird jedes Exemplar dieses vorsintflutlichen Bestiariums künstlich am Leben gehalten, fast als wäre es nur eine Hypothese des Geistes, ein Erzeugnis der Phantasie, ein Konstrukt der Sprache, ein paradoxes Demonstrationsobjekt, um zu beweisen, daß die einzige wahre Welt die unsere sei …
Als wenn der Reptiliengeruch erst jetzt unerträglich würde, drängt es Herrn Palomar plötzlich ins Freie. Um hinauszugelangen, muß er durch den großen Saal der Krokodile, vorbei an einer Reihe von Wasserbecken, die durch Barrieren getrennt sind. Im trockenen Teil neben jedem Wasserbecken liegen die Krokodile, einzeln oder in Paaren, farblos, gedrungen, ungeschlacht, grauenerregend, schwer und platt ausgestreckt auf dem Boden über die ganze Länge der grausamen Kiefern, der kalten Bäuche und breiten Schwänze. Alle scheinen zu schlafen, auch die mit offenen Augen, oder vielleicht sind alle schlaflos in einer desolaten Starre, auch mit geschlossenen Augen. Ab
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