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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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und zu regt sich eins, hebt sich träge auf seine kurzen Beine, kriecht zum Beckenrand und läßt sich hineinfallen mit einem dumpfen Plumpsen; eine Welle schwappt hoch, dann treibt es im Wasser, reglos wie zuvor. Ist es eine grenzenlose Geduld, was sie damit bezeugen, oder eine unendliche Verzweiflung? Was erwarten sie, oder was haben sie aufgehört zu erwarten? In welche Zeit sind sie eingetaucht? In die der Gattung jenseits des rasenden Ablaufs der Stunden von der Geburt bis zum Tod des Individuums? Oder in die der Erdzeitalter, die Kontinente verschiebt und die Krusten der aufgetauchten Landmassen hart werden läßt? Oder in die des langsamen, langen Erkaltens der Sonne? Der Gedanke einer Zeit außerhalb unserer Erfahrung ist unerträglich. Herr Palomar beeilt sich hinauszugelangen, die Reptilien kann man nur ab und zu und nur flüchtig besuchen.
     

Herrn Palomars Schweigen
     

Herrn Palomars Reisen
Das Sandbeet
    Ein kleiner Hof, bedeckt mit weißem grobkörnigem Sand, fast Kies, geharkt in parallelen Geraden und konzentrischen Kreisen rings um fünf unregelmäßige Gruppen von Steinen oder fachen Felsbrocken. So präsentiert sich eins der berühmtesten Monumente der japanischen Kultur, der Stein-  und Sandgarten des Ryoanji-Tempels in Kyoto, Sinnbild einer kontemplativen Versenkung ins Absolute, die mit einfachsten Mitteln zu erreichen ist, ganz ohne Rekurs auf verbale Begriffe, wenn man den Lehren der Zen-Mönche folgt, der spirituellsten Sekte des Buddhismus.
     Das farblose Sandgeviert wird auf drei Seiten von ziegelgedeckten Mauern begrenzt, hinter denen Bäume grünen. An der vierten Seite ist eine hölzerne Tribüne mit Stufen, auf denen das Publikum Platz nehmen kann. »Wenn unser inneres Auge sich in den Anblick dieses Gartens versenkt«, erläutert der Handzettel, den die Besucher erhalten, auf Japanisch und Englisch, unterzeichnet vom Abt des Tempels, »fühlen wir uns befreit von der Relativität unseres individuellen Ichs, während uns die Ahnung des absoluten Ichs mit ruhigem Staunen erfüllt und unsere vernebelten Sinne reinigt.«
     Herr Palomar ist bereit, diese Ratschläge treu zu befolgen. Er setzt sich auf die Stufen und betrachtet die Felsen, Stein für Stein, er folgt den Linien im weißen Sand und läßt die undefinierbare Harmonie, die den Teilen des Bildes Zusammenhalt gibt, langsam in sich eindringen. Oder vielmehr: Er versucht sich das alles so vorzustellen, wie es jemand empfinden würde, der sich darauf konzentrieren könnte, den Zen-Garten in Stille und Einsamkeit zu betrachten. Denn – das haben wir vergessen zu sagen – Herr Palomar ist auf der Tribüne eingezwängt zwischen Hunderten von Besuchern, die ihn von allen Seiten bedrängen, Fotoapparate und Filmkameras schieben ihre Objektive zwischen die Ellenbogen, die Knie, die Ohren der Menge, um den Sand und die Steine, beleuchtet vom Tageslicht und von den Blitzlichtern, aus allen möglichen Winkeln aufzunehmen. Füße in Wollsocken übersteigen ihn rudelweise (die Schuhe läßt man, wie überall in Japan, am Eingang), große Kinderscharen werden von pädagogisch beflissenen Eltern in die vorderste Reihe geschoben, Trupps von uniformierten Schülern drängeln sich durch, einzig darauf bedacht, den Pflichtbesuch des berühmten Monuments rasch hinter sich zu bringen, während gewissenhafte Touristen mit rhythmischen Auf und Ab des Kopfes prüfen, ob alles, was im Führer geschrieben steht, auch wirklich der Realität entspricht, und ob alles, was in der Realität zu sehen ist, auch wirklich im Führer geschrieben steht.
     »Wir können den Sandgarten als einen Archipel von Felseninseln in der unendlichen Weite des Ozeans sehen, oder als Gipfel hoher Berge, die aus einem Wolkenmeer aufragen. Wir können ihn als ein Gemälde sehen, umrahmt von den Mauern des Tempels, oder auch den Rahmen vergessen und uns vorstellen, das Sandmeer erstrecke sich grenzenlos und bedecke die ganze Welt.«
     Diese »Gebrauchsanweisungen« sind dem Handzettel zu entnehmen, und sie erscheinen Herrn Palomar auch ganz plausibel und jederzeit mühelos anwendbar, vorausgesetzt, man ist wirklich sicher, eine Individualität zu haben, von der man sich befreien kann, und die Welt aus dem Innern eines Ichs zu betrachten, das sich aufzulösen und reiner Blick zu werden vermag. Doch genau diese Voraussetzung erfordert ein Mehr an Vorstellungskraft, das nur schwer aufzubringen ist, wenn man sein Ich in einer kompakten Masse eingekeilt findet, die durch ihre

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