Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
Bewegung des Halses, die sich in die restliche Wirbelsäule hinein fortsetzt. Die Giraffen erscheinen wie Apparate, die aus heterogenen Maschinenteilen zusammengebaut worden sind, aber dennoch perfekt funktionieren. Allmählich erkennt Herr Palomar, während er weiter den Lauf der Giraffen beobachtet, eine vertrackte Harmonie, die jenes disharmonische Hoppeln regiert, eine innere Proportion, die noch die krassesten anatomischen Disproportionen zusammenhält, eine natürliche Anmut, die aus jenem ungraziösen Gestakse hervorgeht. Das einheitsstiftende Element sind die Flecken des Fells, die sich zu unregelmäßigen, aber homogenen Figuren verteilen, und die eckigen scharfen Konturen: Sie passen wie ein exaktes graphisches Äquivalent zu der segmentierten Gangart des Tieres. Mehr als von Flecken müßte man von einem schwarzen Überzug sprechen, dessen Einheitlichkeit durch helle Äderungen zersetzt wird, die aufplatzen und ein Rautenmuster verfolgen – eine Diskontinuität in der Pigmentierung, die bereits die Diskontinuität der Bewegungen annonciert.
     
    Aber nun hat Herrn Palomars kleine Tochter das Giraffenbetrachten endgültig satt und zerrt ihn zur Grotte der Pinguine. Herr Palomar, dem die Pinguine Angst machen, folgt ihr widerwillig und fragt sich, warum die Giraffen ihn so sehr interessieren. Vielleicht, weil die Welt rings um ihn her sich disharmonisch bewegt und er immer hofft, einen Plan darin zu entdecken, eine Konstante. Vielleicht, weil er spürt, daß er selber planlos vorgeht, getrieben von unkoordinierten Geistesregungen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben und sich immer schwerer in irgendein inneres Harmoniemuster bringen lassen.
     

Der Albino-Gorilla
    Im Zoo von Barcelona gibt es das einzige auf der Welt bekannte Exemplar eines Albino-Großaffen, einen weißen Gorilla aus Zentralafrika. Herr Palomar drängt sich durch die Menge der Neugierigen vor seinem »Pavillon«. Hinter einer Glasfront erhebt sich Copito de Nieve (»Schneeflocke«, wie er heißt), ein Berg von Fleisch und weißem Fell. Sitzt da mit dem Rücken an eine Wand gelehnt und sonnt sich. Die Gesichtsmaske, ganz von Runzeln zerfurcht, ist von einer menschlichen Rosigkeit, auch die Brust zeigt eine kahle und rosige Haut wie bei einem Menschen der weißen Rasse. Hin und wieder dreht sich das Knittergesicht mit den Zügen eines traurigen Riesen zu der Besuchermenge jenseits der Scheibe, kaum einen Meter entfernt; ein müder Blick voller Trostlosigkeit und Geduld und Überdruß, ein Blick, der die ganze Resignation ausdrückt, die ganze Ergebenheit in das Schicksal, so zu sein, wie man ist, weltweit einziges Exemplar einer nicht gewählten und nicht geliebten Form, die ganze Bürde der eigenen Einmaligkeit, die ganze Pein, den Raum und die Zeit mit der eigenen so massiven und sichtbaren Gegenwart anzufüllen.
     Die Glasfront öffnet die Sicht auf ein kleines Freigehege, umgeben von hohen gemauerten Wänden, die ihm das Aussehen eines Gefängnishofes verleihen, aber in Wirklichkeit ist es der »Garten« des Käfig-Hauses der Gorillas, auf dessen Lehmboden sich ein kahles Bäumchen erhebt nebst einer Eisentreppe, wie man sie aus Turnhallen kennt. Im Hintergrund sitzt das »Weibchen«, eine große schwarze Gorillafrau mit einem gleichfalls schwarzen Kleinen im Arm: Die weiße Fellfarbe ist nicht erblich, Copito de Nieve bleibt der einzige Albino unter allen Gorillas.
     Weiß und reglos, wie er da sitzt, erscheint er Herrn Palomar uralt wie ein Monument aus unvordenklichen Zeiten, wie die Gebirge oder die Pyramiden. In Wirklichkeit ist er noch ziemlich jung, und nur der Kontrast zwischen seinem rosig getönten Gesicht und den kurzen weißen Haaren, die es umrahmen, und vor allem die Runzeln rings um die Augen lassen ihn wie einen Greis erscheinen. Im übrigen hat er weniger Ähnlichkeit mit einem Menschen als die anderen Primaten: Wo die Nase sein müßte, reißen die Nasenlöcher zwei Abgründe auf; die Hände, behaart und – so möchte man meinen – recht ungeschlacht an den Enden sehr langer und steifer Arme, sind fast noch Füße, und als solche benutzt er sie auch, wenn er geht, indem er sie wie ein Vierfüßler auf den Boden stützt.
     Jetzt drücken diese Fuß-Hände einen Autoreifen fest an die Brust. In der enormen Leere seiner Stunden läßt »Schneeflocke« nie von dem Reifen ab. Was mag dieser Gegenstand für ihn sein? Ein Spielzeug? Ein Fetisch? Ein Talisman? Herr Palomar meint, den Gorilla sehr gut verstehen

Weitere Kostenlose Bücher