Herr Palomar
Dicke einer Speckschwarte, zarte und schlanke Lendenfilets neben breiten Koteletts mit griffigen Knochen, massige Rundstücke, rundum mager, neben Bergen von Suppenfleisch, geschichtet in mager und fett, Bratenstücke in Erwartung des Spießes, der sie zur Konzentration auf sich selber zwingt. Dann kommen mildere Farben: Kalbsschnitzel, Kalbslenden, Kälbernes von Rücken und Brust und Bauch, und schon treten wir ins Reich der Lammkeulen und der Lammrücken. Weiter hinten schimmert weiß eine Schüssel mit Kutteln, schwarz eine Leber …
Hinter dem Tresen schwingen weißgekleidete Metzger ihre Beile mit trapezoider Klinge, ihre Hack- und Schneidemesser, ihre Knochensägen und ihre Fleischklopfer, mit denen sie die rosigen Ringellöckchen in den Trichter des Fleischwolfs pressen. Hoch über ihnen hängen an riesigen Haken gevierteilte Körper, um uns daran zu erinnern, daß jeder Happen, den wir verzehren, Teil eines Wesens ist, aus dessen lebendigem Ganzen er mit gewaltsamer Willkür gerissen wurde.
Eine Schautafel an der Wand zeigt das Profil eines Rindes wie eine geographische Karte, durchzogen von Grenzlinien zur Markierung der eßbaren Zonen, unter Einschluß der ganzen Anatomie des Tieres außer den Hörnern und Hufen. Die Karte des menschlichen Habitats ist ebendiese, nicht weniger als eine schematisierte Weltkarte – beides Protokolle, die bestätigen, welche Rechte der Mensch sich angemaßt hat, Rechte auf Inbesitznahme, restlose Aufteilung und totalen Verzehr der irdischen Kontinente und der Lenden des tierischen Körpers.
Zugegeben, die Symbiose Mensch-Rind hat im Lauf der Jahrhunderte eine gewisse Balance erreicht (erlaubt sie doch beiden Gattungen weiter, sich zu vermehren), wenn auch eine asymmetrische (zwar liefert der Mensch dem Rind die Nahrung, aber er ist nicht gehalten, sich ihm persönlich als Speise darzubieten), und sie hat das Blühen der sogenannten menschlichen Zivilisation garantiert, die jedoch mindestens zu einem Teil die mensch-rindliche genannt werden müßte (die partiell mit der mensch-schaflichen koinzidiert und noch partieller mit der mensch-schweinlichen, je nach den Alternativen einer komplexen Geographie religiöser Verbote). Herr Palomar partizipiert an dieser Symbiose mit klarem Bewußtsein und vollem Konsens: Obwohl er durchaus in dem von der Decke baumelnden Rinderrumpf die Person des eigenen gevierteilten Bruders erkennt und im Lendenschnitt die Wunde, die das eigene Fleisch verletzt, weiß er doch, daß er ein Fleischfresser ist, konditioniert durch seine Ernährungstradition, in einem Metzgerladen die Verheißung höchsten Gaumenglücks zu erfassen, sich beim Betrachten dieser rötlichen Scheiben die Streifen vorzustellen, die der heiße Rost und die Flammen auf den gegrillten Steaks hinterlassen werden, und das Vergnügen der Zähne beim Zerreißen der gebräunten Faser.
Das eine Gefühl schließt das andere nicht aus: Die Seelenlage Herrn Palomars, der in der Metzgerei Schlange steht, ist zugleich von Vorfreude und von Ehrfurcht geprägt, von Verlangen und von Respekt, von egoistischer Selbstsucht und von universalem Mitgefühl – eine Seelenlage, die andere vielleicht im Gebet ausdrücken.
Herr Palomar im Zoo
Der Lauf der Giraffen
Herr Palomar steht im Zoo von Vincennes vor dem Giraffengehege. Immer wieder fangen die großen Giraffen, gefolgt von den kleinen, plötzlich zu laufen an, stürmen heran bis dicht vor das Gitternetz des Geheges, machen kehrt und stürmen zurück, wiederholen das Ganze zwei oder dreimal in wildem Gerenne und bleiben dann stehen. Herr Palomar wird nicht müde, ihren Lauf zu beobachten, fasziniert von der Disharmonie ihrer Bewegungen. Es gelingt ihm nicht zu entscheiden, ob sie galoppieren oder traben, denn die Gangart der Vorderbeine hat nichts mit dem Gang der Hinterbeine zu tun. Die schlaksigen Vorderbeine krümmen sich bis zur Brust und rollen sich auf bis zum Boden, als wären sie unsicher, welche der vielen Gelenke sie einbiegen sollen. Die Hinterbeine, die sehr viel kürzer und steifer sind, hoppeln ungelenk hinterher, als wären sie Holzbeine oder humpelnde Krücken, aber nur wie zum Spaß, als wüßten sie, daß sie komisch sind. Unterdessen geht der weit vorgestreckte Hals in wogenden Wellenbewegungen auf und nieder wie der Arm eines Krans, ohne daß sich ein Verhältnis zwischen seinen Bewegungen und denen der Beine herstellen ließe. Hinzu kommt ein wippendes Auf und Nieder der Kruppe, aber das ist nur die
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