Herr Palomar
zu können, sein Bedürfnis nach einer Sache, die er festhalten kann, während ihm alles entgleitet, nach einem Ding, das ihm Halt bietet in seiner Angst vor der Isolation, dem Anderssein, dem Verurteiltsein, immer als lebendes Phänomen betrachtet zu werden, von seinen Weibern und seinen Kindern wie von den Zoobesuchern.
Auch die Gorillafrau besitzt einen Autoreifen, aber für sie ist er ein Gebrauchsgegenstand, zu dem sie ein praktisches und problemloses Verhältnis hat: Sie sitzt darin wie in einem Sessel und sonnt sich, während sie ihr Baby laust. Für Copito de Nieve hingegen scheint der Kontakt mit dem Reifen etwas Affektives zu sein, etwas Possessives und in gewisser Weise Symbolisches. Als könnte sich darin ein Spalt auftun, ein Ansatz zu dem, was für den Menschen die Suche nach einem Ausweg aus dem Lebensüberdruß ist: das Sicheinbringen in die Dinge, das Sich in den Zeichen Wiedererkennen, das Verwandeln der Welt in einen Zusammenhang von Symbolen: fast ein erstes Aufdämmern von Kultur in der langen biologischen Nacht. Als Mittel, um dies zu erreichen, verfügt der weiße Gorilla nur über einen alten Reifen, ein Artefakt der menschlichen Produktion, ihm äußerlich, ohne jeden Symbolwert, bar aller Signifkate, abstrakt. Man sollte meinen, aus seiner kontemplativen Betrachtung ließe sich nicht viel gewinnen. Und doch, was ist besser als gerade ein leerer Kreis imstande, alle Bedeutungen anzunehmen, die man ihm zuschreiben möchte? Vielleicht ist der Gorilla, während er sich in ihn einfühlt, gerade dabei, auf dem Grunde des Schweigens die Quellen der Sprache zu finden, einen Strom von Beziehungen herzustellen zwischen seinen Gedanken und der sturen unerbittlichen Evidenz der Fakten, die sein Leben bestimmen …
Herr Palomar geht aus dem Zoo, aber das Bild des Albino-Gorilla geht ihm nicht aus dem Kopf. Er versucht, mit allen möglichen Leuten darüber zu sprechen, aber so of er es auch versucht, niemand hört ihm recht zu. Nachts, in den Stunden der Schlaflosigkeit wie in den kurzen Träumen, erscheint ihm weiter der weiße Riese.
Wie der Gorilla seinen Reifen hat, als greifbaren Anhalt für eine wahnhafte wortlose Rede – denkt er –, so habe ich dieses Bild eines weißen Affen. Wir alle drehen immerzu einen leeren alten Reifen zwischen den Händen, mit dessen Hilfe wir gern jenen letzten Sinn erreichen würden, zu dem die Worte nicht vordringen.
Die Ordnung der Schuppentiere
Herr Palomar würde gern verstehen, warum ihn die Leguane so faszinieren. In Paris geht er von Zeit zu Zeit in den Reptilienpavillon des Jardin des Plantes und ist nie enttäuscht. Was der Anblick des Leguans als solcher an Außerordentlichem, ja Einzigartigem hat, ist ihm durchaus klar, doch er fühlt, daß da noch etwas mehr sein muß, und er weiß nicht recht, was es ist.
Der Grüne Leguan (Iguana iguana) hat eine Haut, die aussieht wie aus winzigen grüngesprenkelten Schuppen geflochten. Von dieser Haut hat er zuviel: am Hals, an den Füßen bildet sie Falten, Taschen, Schlaufen, wie ein Kleidungsstück, das glatt am Körper anliegen müßte, aber statt dessen überall lose herunterhängt. Längs der Wirbelsäule erhebt sich ein Zackenkamm, der bis zum Schwanz weitergeht; der Schwanz ist ebenfalls grün bis zu einem bestimmten Punkt, danach wird er blasser und segmentiert sich in Ringe von wechselnder Farbe: hellbraun und dunkelbraun. Über dem breiten Maul auf dem grünen Schuppenkopf öffnet und schließt sich das Auge, und genau dieses »entwickelte« Auge, ein Auge mit Blick, mit Interesse, mit Traurigkeit, weckt den Gedanken, daß in dieser Drachengestalt ein anderes Wesen verborgen sein könnte: ein Tier, das mehr denen ähnelt, die uns vertraut sind, ein Lebewesen, das uns näher steht, als es scheint …
Dann weitere stachlige Kämme unter dem Kinn, am Hals zwei runde weiße Plättchen wie von einem Hörapparat: eine Menge Zubehör und Beiwerk, Zierat und Schutzvorrichtungen, eine Musterkollektion der verfügbaren Formen im Tierreich und vielleicht noch in anderen Reichen, zuviel für ein einziges Tier, was macht es mit all dem Zeug? Dient es als Maske für jemanden, der uns aus seinem Innern betrachtet?
Die Vorderfüße mit ihren fünf Fingern würden eher an Krallen als an Hände erinnern, säßen sie nicht an richtigen Armen, die muskulös und wohlgestaltet erscheinen; anders die langen und weichen Hinterfüße mit Fingern wie Pflanzenableger. Aber im Ganzen vermittelt das Tier, wenn
Weitere Kostenlose Bücher