Herr Tourette und ich
zwei, drei, vier – und hüpfe ins Auto. Dann klettere ich über die Armlehne und falle direkt in den riesigen Rücksitz hinein. Ich bleibe sitzen oder liegen – mein Körper scheint sich noch nicht richtig entschieden zu haben, in welcher Position er sich befindet. Dann lehne ich mich auf die Seite und sinke noch tiefer in den Sitz ein. Ich denke daran, dass ich mit dem ersten Versuch durch die Autotür gekommen bin. Mit dem ersten Versuch. Der Zwang hat eins in die Fresse gekriegt, ich habe gewonnen. Vielleicht ist das Auto von magischem Glück beseelt. Bin ich schon mit einer Dosis guten magischen Glücks infiziert worden? Ich lehne mich zurück, lege den Kopf an die eine Tür, streichle mit den Fingern über das Sitzleder, schön – Zucken im Bauch . Ich rutsche noch weiter in den Rücksitz hinein, noch tiefer in dieses so schöne und weiche und sichere Bett, der beste Schlafplatz, den ich seit meinem Umzug nach Oslo gehabt habe. Und ich verspüre Ruhe, Frieden, ein Gefühl, das ich seit Monaten nicht gehabt habe. Und ich schlafe ein.
Ich schlafe mindestens sechs Stunden, gefühlte sechs Stunden. Als ich aufwache, weiß ich erst nicht, wo ich bin und was ich hier auf dem Rücksitz eines großen Amischlittens mache. Die Verwirrung verwirrt die Reaktion und ich schlafe wieder ein. Nach einer Stunde, gefühlt eine Stunde, wache ich in einem etwas bewussteren Zustand auf. Ich stelle sofort die Verbindung zum Fabrikgebäude her, zum nördlichen Teil der Stadt, den Wanderungen, der alten Dame, der Katze, dem Zimmer. Genau. Ich fühle mich besser. Geht es mir besser? Wo sind die Zwänge und Rituale und Tics? Wo seid ihr? Jetzt kommt schon. Kommt, kommt schon … lange Stille. Ich bewege mich nicht, ich liege einfach da und warte auf die Nachricht – bin ich gesund oder immer noch gestört? Ich warte. Warte. Kommt schon, ihr verdammten Teufel, kommt. Und sie kommen. Sie kommen, als ich mich aufrichten und den Körper strecken will, um die Plastiktüten mit Rippchen und Saft vom Vordersitz zu holen. Da kommen die Türschwellenrituale, der Zählzwang, das Murmeln, alles kommt zurück. Aber es fühlt sich nicht mehr so aufdringlich an, nicht mehr so direkt, es kommt nicht mit der üblichen perversen Exaktheit. Schon gestern Abend, ehe ich einschlief, da habe ich gemerkt, dass der Schlaf zu mir kam – nicht ich habe den Schlaf gesucht. Und ich bin ohne größere Anstrengung eingeschlafen, als wären Rituale und Zwänge nicht da. Also habe ich die Medizin gefunden. Das ist doch selbstverständlich, so selbstverständlich und offensichtlich, dass meine Theorie stimmt – je öfter ich im Auto schlafe, desto besser wird es mir gehen. Wenn ich mich schon jetzt, nach einer Nacht im Auto, besser fühle als gestern, wie viel gesünder werde ich mich dann nach zwei Nächten, nach achtundzwanzig Nächten, nach drei Monaten, nach sieben Monaten fühlen? In sieben Monaten werde ich so gesund sein, wie ich sein will.
Ich habe verdammt noch mal die Medizin gefunden.
Während meiner Karriere als Zeitungsausträger habe ich zehn Paar Handschuhe aus Lederimitat geklaut. Ich habe entdeckt, dass Handschuhe einfach genial sind – sie schützen vor Kälte, haben Stil, aber vor allem halten sie die Bazillen beträchtlich auf Abstand. Ich kann Türklinken und Wasserhähne anfassen, Schränke und Schlüssel, Stifte und Geld, ohne den Ellenbogen benutzen zu müssen oder die Dinge mit dem Pulloverärmel abzuwischen, ehe ich sie anfasse. Die Handschuhe schützen vor den meisten Sachen, der Zwang wird gedämpft, das Waschen wird nur so ein Drüberspritzen – und ich erspare mir drei Stunden Ritualisieren.
Weil die Finger die meiste Zeit in den Handschuhen verbringen, fühlen sie sich ein wenig klebrig und trocken an. Aber das ist in Ordnung, lieber klebrige Finger als eklige Zwangsgedanken.
Ich verstecke meine Sachen unter der Rampe in der Fabrikhalle, über die Ledertasche lege ich einen großen Mauerstein. Dann begebe ich mich wieder auf eine lange Nachmittagswanderung. Ich nehme die U-Bahn und fahre schwarz einige Stationen nach Süden. Die zentralen Teile von Oslo versuche ich zu vermeiden, da ist das Risiko größer, alte Bekannte zu treffen. Vielleicht schäme ich mich, oder ich habe auch zu hohe Gedanken von mir selbst, ich weiß es nicht. Aber vor einigen Wochen saß zufällig ein Tontechnikerstudent neben mir in der U-Bahn. Als ich grüßte, sah er weg, als würde er mich nicht kennen. Ich weiß, dass ich vielleicht nicht
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