Herr Tourette und ich
kranken Gehirn eingeschlossen zu sein. Aber ich bleibe auf dem Stuhl sitzen und denke weiterhin, dass morgen, morgen alles sicher besser gehen wird, morgen geht das Leben weiter, übermorgen wird das gesunde Leben weitergehen. Aber am nächsten Morgen sitze ich wieder da. Inzwischen schlafe ich auch im Sitzen. Ich erspare mir eine Stunde Ritualisieren, indem ich mich nicht auf das Sofa lege. Stattdessen lehne ich mich auf dem Stuhl zurück und stelle die Beine auf einem Bündel Zeitungen ab, so dass sie automatisch im Winkel von fünfundvierzig Grad liegen. Ich stelle fest, dass ich auf dem Stuhl genauso gut schlafe wie auf dem Sofa – der Mantel wärmt mindestens ebenso gut, und ich bekomme eine Stunde mehr Schlaf.
Vom Moment des Aufwachens an wasche ich mich eigentlich den ganzen Tag. Ich benutze den Eimer als Waschbecken, vier Tage altes Wasser zur Erfrischung. Aber ich fühle mich sauber, und darum dreht sich schließlich alles – das Gefühl, sauber zu sein. Und mein Körper fühlt sich sauber an, aber die Gedanken dreckig.
Ich bin kein Penner. Ein Penner muss schließlich draußen pennen, um sich Penner zu nennen. Und ich bin auch kein Obdachloser – schließlich habe ich ein Obdach, und lose bin ich ganz und gar nicht. Was bin ich dann? Im Augenblick bewege ich mich in einem weiteren Timeout-Zustand. Das Zimmer befindet sich in Oslo, das Zuhause im Norden, und ich befinde mich im Kranken. Die Zwänge besetzen mein Verhalten, der Alltag im Zimmer ist nicht mehr auszuhalten, ich kann nur noch dasitzen und darauf warten, dass das Kranke verschwindet, ich werde vergammeln, ein Teil des Stuhls werden. Ich nehme das Kranke in meine eigenen Hände: Jetzt werde ich ausprobieren, nicht länger im Zimmer zu schlafen. Und wenn ich morgen aufwache und mich gesünder fühle, dann habe ich meine Medizin gefunden. Und je öfter ich nicht im Zimmer schlafe, desto gesünder werde ich. Nach einem halben Jahr werde ich sechsmal gesünder sein als heute, in einem Jahr zwölfmal gesünder. Die Methode ist perfekt.
Ich lege die wichtigsten Dinge in die Ledertasche meines Vaters und verlasse stolz das Zimmer – ich tue etwas, ich sitze nicht nur auf einem Stuhl und verrotte. Und ich klebe noch einen Zettel an die Tür: »Gleich zurück.« Als ich das Zimmer verlasse, bin ich voller Energie, ganz scharf darauf, zu kämpfen – die Gedankenhölle soll nur sehen, mit wem sie es hier zu tun hat. Ich gebe nicht auf, ich hebe mich auf.
Der Chrysler und ich
Eine alte Fabrik auf Tåsen im nordwestlichen Teil von Oslo.
Das Gebäude kann jeden Augenblick einstürzen, aber es ist wirklich anders und auf gewisse Weise anziehend. Es liegt direkt gegenüber einer U-Bahn-Station. Der Name der Fabrik endet auf »und Sohn«, der Rest ist weg. Wahrscheinlich haben sie mit Handelswaren zu tun gehabt, Mehl und Weizen. Die Fabrik lässt mich aus irgendeinem Grund an die Dreißigerjahre denken. Es ist erst ungefähr einen Monat her, seit ich das letzte Mal hier war. Da habe ich im Hauptgebäude gesessen, habe mich auf einer alten Rampe ausgeruht und die Plastiktüten in den Schuhen zurechtgezupft. Damals habe ich in der alten Garage, auf der Rückseite des Fabrikgebäudes, dieses phantastisch schöne Auto entdeckt – einen richtigen Chrysler 300C. Aus den Fünfzigerjahren. Die Fenster sind heil, der Lack ebenso, der Himmel ist ein wenig mitgenommen, drinnen riecht es schimmelig, hier und da ragt eine durchgesessene Feder heraus, aber ansonsten scheint das Auto noch in seinem Originalzustand zu sein. Das Einzige, was das Bild stört, sind die Räder, oder besser gesagt, ihr Fehlen. Das Auto steht auf dem Zementboden, es hat keine Räder, keine Felgen, keine Reifen, es steht einfach direkt auf dem Zementboden, als hätte jemand es aufgegeben. Aber vielleicht gehört es auch jemandem, der einfach keine Zeit hat, sich darum zu kümmern. Ganz gleich, welche Version ich wähle, so weiß ich doch, dass der Besitzer kaum mitten in der Nacht auftauchen und daran herumbasteln wird, um es zu restaurieren. Also kann ich im Auto diese erste Testnacht außerhalb des Zimmers sicher schlafen. Ich öffne eine Vordertür, die hinteren Türen sind verschlossen oder festgerostet, und lege die Plastiktüte mit Knäckebrot und Saft und Rippchen auf den Beifahrersitz.
Ich schaue über den Türrahmen, suche nach einem blauen Punkt, hebe das linke Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad, schaue auf den blauen Punkt, zähle eins, zwei, drei, vier, fünf + eins,
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