Herr Tourette und ich
Kristinus«, lächelt die verdammte Sara.
Ich will dem Schwein nicht die Hand geben, er wirkt schmutzig, voller Bazillen.
»Ich habe Probleme mit dem Handgelenk«, erkläre ich.
Schon ehe der Freund aufgetaucht ist, habe ich die Zwänge gespürt, aber jetzt ist es, als sei alle Motivation erstorben. Der Rest des Tages wird zu einem langen und anstrengenden Antiklimax. Die Zwänge übernehmen, die Gedanken schaffen es nicht, sich zu konzentrieren, jede zehnte Minute tauchen die Rituale auf. Mir ist klar, dass ich sowieso nicht in die Schule aufgenommen werde, warum soll ich mich dann weiterhin allen möglichen Enttäuschungen aussetzen?
Bei den individuellen Übungen geht es besser. Ich habe mit dem Stimmpädagogen und dem Rektor etwas, das man ein Gespräch nennen könnte. Der Stimmpädagoge lobt meine Luftkanäle, sagt, ich solle etwas öfter als bisher singen, und ich verspreche es. Der Rektor lobt meine Energie: »Du hast kiloweise Energie, wir begreifen nicht, wo du die hernimmst«, sagt er, ich begreife es auch nicht.
»Wir sehen uns in drei Monaten«, sagt Sara, ehe sie die Schule verlässt. Sie verschwindet allein aus dem Hauptgebäude, und sie dreht sich nicht um, also werden wir uns in drei Monaten sowieso nicht sehen. Ich warte, dass die anderen den Raum verlassen, damit ich in einsamer Majestät die Rituale ausführen kann. Ich sitze noch auf dem Fußboden, tue so, als würde ich dehnen, beuge das eine Bein vor und zurück, zurück und vor. Einer der Juroren geht vorbei und sagt freundlich: »Du bist fleißig, das gefällt uns, aber mach deinen Körper nicht kaputt.«
Ich lächele verkrampft zurück.
Zum Bahnhof zurückzukommen geht erstaunlich glatt. Ich komme rechtzeitig an, mindestens eine halbe Stunde vor Abfahrt des Nachtzuges. Am Kiosk kaufe ich mir eine Wurst mit Senf und beschließe, sie guten Gewissens zu essen.
Entscheidungen um Entscheidungen
Ich fahre direkt vom Nachtzug zum Hof hinaus. Nach dem Workshop am Wochenende bin ich müde, habe aber trotzdem Lust, den Schweiß aus dem Körper zu arbeiten, die Zwänge aus dem Kopf und die Rituale aus dem Hirn. Und es funktioniert. Ich hebe und senke, biege und schiebe, arbeite in einem wahnsinnigen Tempo, ohne Pausen, Essen oder Trinken. Der Körper spurt wie ein hochtouriger Turbomotor. Erst um acht Uhr abends mache ich eine Pause. Da habe ich im Großen und Ganzen seit zehn Uhr morgens ununterbrochen gearbeitet. Platen bittet mich, das Tempo runterzufahren, er lächelt, meint es aber ernst. »Wenn du in dieser Fahrt weitermachst, dann werde ich in einer Woche keine Arbeit mehr für dich haben.« In einer Woche. Die nächste Woche ist mir egal, ich habe Probleme genug, für heute Nacht ein Dach über dem Kopf zu finden. Der Körper schafft es nicht in die Stadt, kann sich nicht wieder in einen Nachtzug setzen. Ich werde versuchen, einen Schlafplatz auf dem Hof zu finden. Irgendwo muss es doch ein Zimmer oder ein Bett oder etwas in der Art geben. Und natürlich gibt es das – ein großer Hof wie dieser hat doch ebenso viele Zimmer wie ein größeres Hotel. Ein Dach, etwas Wärme, ein Kissen – das sind meine Erwartungen an ein gutes Hotel. Und innerhalb einer Stunde erfüllen sich diese Erwartungen. Neben der Garage für die Traktoren gibt es ein kleines Zimmer, einen etwas heruntergekommenen Personalraum. Ein Sofa, ein Tisch und eine Kaffeemaschine, das ist alles. Aber für mich ist das mehr als genug. Hier ist es still und warm und geschützt, und die leeren Heusäcke können wunderbar als Decke dienen. Ich schlafe sofort ein.
Mein Körper hat sich daran gewöhnt, früh aufzustehen, ich brauche keinen piependen Wecker, der Körper ist selbst ein lebender Wecker. Ich weiß nicht warum, aber ich stehe immer zur selben Zeit auf, jeden Morgen, die ganze Woche über. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht ist die Angst, dass mich jemand entdecken könnte, zu einem unfreiwilligen Klingelton geworden. Obwohl das Gehirn müde ist und gern noch etwas schlafen würde, entscheidet sich der Körper doch dafür, jeden Morgen gegen sechs Uhr aufzuwachen. Manchmal wache ich noch früher auf und kann nicht wieder einschlafen. Das ist ärgerlich. Ich liege da und wälze mich herum, hebe die Beine, strecke den Nacken, trommele mit den Fingern, knirsche mit den Zähnen, aber nichts hilft. Dann kann ich genauso gut auch aufstehen. Als ich im Personalraum aufwache, ist es also nicht später als fünf Uhr morgens. Ich wasche mich – eine
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