Herr Tourette und ich
Zimmer nicht betreten, aber ich kämpfe mich über die erste, die zweite und die dritte Türschwelle, ohne das Türritual mehr als ein paar Mal wiederholen zu müssen. Platen schaut, aber doch nicht misstrauisch. Ich stelle mich mit dem einen Fuß ins Zimmer, mit dem anderen draußen. Auf diese Weise ist nicht mein ganzer Körper im Zimmer, und ich muss das Ritual nicht noch einmal ausführen. Ich sehe mich um, das Zimmer verursacht mir schlechte Vibrationen, es ist wie eine Reise zurück in eine andere Zeit.
»Du kannst hier für einen Hunderter in der Woche wohnen«, sagt Platen.
»Muss ich mir überlegen«, erwidere ich.
In dieser Nacht schlafe ich wieder in dem kleinen Personalraum neben dem Traktorschuppen. Ich finde, dass ich Platen davon erzählen sollte. Er ist ein guter Mensch und will mir nur wohl. Aber ich schäme mich, ich würde mir wie der letzte Idiot vorkommen, wenn ich erzählen würde, dass ich diesen Raum hier dem Zimmer im Flügel vorziehe. Außerdem würde er mich für einen verdammten Geizkragen halten. Also tue ich weiter so, als würde ich jeden Morgen zur selben Zeit mit dem Bus kommen.
Am Freitagabend nehme ich allerdings doch den Nachtzug, steige in Hallsberg aus und schlafe mich denselben Weg wieder zurück. Am Samstag habe ich frei, laufe in der Stadt herum, nehme in der Citykonditorei einen Kaffee, lese drei Stunden lang Zeitungen, kaufe kalte Rippchen und ein Paket grobes Knäckebrot.
Ich trinke Kaffee. Ich mag Kaffee, liebe Kaffee. Vor allem den Duft. Doch je mehr ich davon trinke, desto mehr achte ich darauf, welchen Kaffee ich trinke. Dabei geht es nicht um den Geschmack, sondern mein größtes Interesse gilt dem Namen des Kaffeeproduzenten. Seit langer Zeit schon kann ich keine ganzen x, z oder y schreiben. Das sind messerscharfe Buchstaben, sie erinnern mich an Messer, Stöcke, Blut, Ansteckung, Rot, Tod. Eines Tages beschließe ich, keinen Kaffee mehr zu trinken, der x, z oder y im Namen hat. Ich weiß, dass Kaffee Gehirnsaft ist, Gehirnsaft, der mein Gehirn beeinflussen kann, das sterben kann, verrotten, von dem verseuchten Gehirn vernichtet. Kaffee mit x, z oder y im Namen steht für ansteckenden Gehirnsaft, tödliche Tropfen Kaffeegift. Somit vermeide ich ganz, Kaffee von Zoégas und Luxus zu trinken. Hingegen trinke ich ungeheure Mengen Gevalia. Warum? Nun. Die Magie bestimmt, die Logik stimmt ein, die Kombination siegt: Gevalia ist der lateinische Name der Stadt Gävle. Gävle liegt im Norden. Norden ist kalt. Kalt ist wie blaue Farbe. Blau ist gut. Gut ist Sicherheit.
In der darauffolgenden Woche kann ich kein Paket Zoégas oder Luxus anfassen.
Das sind Bazillenträger, Pakete voller Gehirnsaftpulver.
Von jetzt an ist es Gevalia, Gevalia und Gevalia und Gevalia, etwas anderes geht nicht.
Es ist nicht der Geschmack, sondern die Macht des Gehirnsafts über den Geschmack.
Bis um vier Uhr nachmittags laufe ich in der Stadt herum, und dann gehe ich – rein zufällig – in die Kirche und lasse mich in einer Bank ganz hinten nieder. Außer mir ist niemand da. Ein paar Stunden bleibe ich auf demselben Platz sitzen. Ich nage an Rippchen, esse ein paar Knäckebrote, denke Gedanken, Zukunftsgedanken, und warte auf den Nachtzug, der um eins abfährt. Meine Interrailkarte ist immer noch drei Tage gültig. Eigentlich würde ich viel lieber in der Kirche schlafen, statt diesen Nachtzug zu nehmen. Aber der Wachmann würde mich doch nur rausjagen. Ich laufe herum und sehe mir alles an, versuche in der Bibel zu lesen und in den christlichen Zeitungen und Infotexten, aber all die x, z und y verwirren mich, erzeugen Zwänge und Rituale, Wiederholungen und Ablenkungen.
Es macht mir nichts aus, keine Gelegenheit zum Duschen zu haben, sondern nicht duschen zu können. Duschen oder mich waschen zu können, einfach einen Kaffee oder Tee oder ein Bier trinken zu können und in irgendeinen Laden gehen zu können, ohne zwangshandeln und ritualisieren zu müssen, das vermisse ich – einfach irgendwelche Dinge tun zu können. Ich kann hier sitzen, stocksteif, leopardenfleckig und stinkend, und Dinge denken, aber ich kann keine Dinge tun. Aber vielleicht wird bald alles anders. Die letzte Woche war nicht so schlimm, gar nicht. Ich leide keine Not, etwas anderes zu sagen hieße zu jammern, und Jammern bringt keinen Erfolg. Die letzte Woche ist im Flug vergangen, ich habe wie besessen gearbeitet, von Theaterimprovisationen über schmutzige Kartoffelschütten zu frischem
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