Herr Tourette und ich
in der möglichst wenige Leute sitzen. Ich setze mich in Reihe 14, ganz hinten rechts, mindestens fünf Meter vom nächsten Nachbarn entfernt. Dann versuche ich, den Wachmann zu erspähen, aber ich sehe niemanden, der aussieht wie ein Kirchenwachmann. Die Orgelmusik beginnt, die Leute singen, der Pfarrer predigt, ich ruhe mich aus. Der Pfarrer wirkt freundlich, er erzählt eine Anekdote über das Wetter, die den Besuchern zu gefallen scheint. Sie lächeln ehrlich, kein Hahaha-Lachen, sondern mehr ein freundliches Hihihi-Lächeln.
Ich sitze ganz still da und höre zu, denke aber an völlig andere Dinge als das, was gesagt wird. Aber die Stimmung gefällt mir. Es fühlt sich sicher an und frei von Erwartungen.
Ich bin hungrig und überlege, ob ich nicht die Hand in die Tasche stecken und mit meinen inzwischen messerscharfen Fingernägeln ein Stück Fleisch von den Rippchen kratzen könnte. Als wir uns alle erheben, um das zu singen, was der Abschlusspsalm sein muss, schaffe ich es, ein Stückchen Fleisch abzukratzen, das ich dann, ohne dass es jemand bemerkt, in den Mund schmuggele. Je länger ich still sitze, desto mehr spüre ich von meinem eigenen Körper – es juckt unterhalb des Nabels, in den Schläfen dröhnt es, das Ziehen im Bauch kehrt zurück, die Zähne tun weh, der Fischgestank rückt immer näher, der Schweiß ist schon da. Wenn ich nur duschen könnte, ich brauche ja nicht mal eine ganze Dusche, nur eine halbe, eine Fußdusche oder Bauchdusche würde schon völlig ausreichen. Ich denke an Pfannkuchen und Ahornsirup und Boeing 747 und ready for take-off und Sara, das genügt, um den Bauch an seinem Platz zu halten. Gut. Schön. Verglichen mit gestern fühle ich mich ein klein wenig besser im Bauch. Doch, das ist schon so, um ehrlich zu sein.
Nach dem Gottesdienst bleibe ich so lange wie möglich in der Bank sitzen. Jetzt halte ich mich seit über zwölf Stunden in der Kirche auf, und das waren zwölf recht gemütliche Stunden, ich habe vermieden, von zu vielen anstrengenden Ritualen und Zwangsgedanken beherrscht zu werden. Ich hätte nichts dagegen, noch weitere zwölf Stunden hier herumzugehen, aber um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu wecken, ist es klüger, die Kirche erst mal zu verlassen, wenigstens für ein paar Stunden. Ich bin fast der Letzte, der noch in der Kirche sitzt, abgesehen vom Pfarrer, der sich drinnen in der Sakristei umzieht. Ich sitze noch auf meinem Platz und sehe zu, wie leicht und frei die Organistin arbeitet. Sie lässt den Kerzenleuchter herunter und bläst die Kerzen aus, faltet das Altartuch zusammen, macht die Kirchenbanktüren zu – Zucken im Bauch – sie ist es. Sie ist die Person. Die Person, die die Kirche zugeschlossen hat, die mich hat schlafen lassen. Sie ist es. Organistin und Wachmann und Person mit großem P. Als ich an ihr vorbeigehe, kommt sie mit einem Putzlappen in der Hand aus der Behindertentoilette. Sie sieht mich an, nicht lange, aber lange genug, dass unsere Blicke sich begegnen können.
»Auf Wiedersehen«, sagt sie im Dialekt.
Vielleicht sage ich ja oder danke oder etwas anderes, vor allem sehe ich zu, die Kirche so schnell wie möglich zu verlassen. Ich brauche zwanzig Minuten, um aus der Tür zu kommen, die Frau sieht, was ich da mache, entscheidet sich aber wohl dafür, es nicht zu sehen.
Als ich über den Friedhof spaziere, empfinde ich eine gewisse Erleichterung. Ich weiß nicht warum, aber mit dem Gefühl geht es mir besser. Ich trinke einen Schluck Saft, aber da steht mir sofort der Mageninhalt im Hals. Ich renne hinter den Schuppen vom Friedhofsgärtner, sinke auf die Knie, stecke mir den saubersten Zeigefinger so weit es geht in den Hals und lasse den Magen in freiem Fall aus dem Mund rutschen. Es fühlt sich an, als wolle der ganze Magen raus, aber viel kommt nicht. Ich esse nicht so viel, deshalb sehe ich keine Klumpen oder Reste von Rippchen, das Einzige, was man sieht, ist Wasser und Saft und Säure. Ich kratze ein Stück Fleisch von den Rippchen und lasse es im Mund herumrollen, der Körper füllt sich mit neuer Energie, der Bauch erwacht wieder zum Leben. Ich stehe langsam auf, lasse das Blut wieder frei durch den Körper strömen. Schön.
Ich suche die Telefonnummer, die wir bekommen haben, ehe wir die Theaterschule verließen, die magische Nummer, die uns mitteilen wird, ob wir Winner oder Loser sind. Ich finde eine Telefonzelle, werfe ein paar Münzen ein, wähle die Nummer, eine Stimme – wahrscheinlich einer der
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