Herr Tourette und ich
Juroren – spricht deutlich und ist sehr direkt:
»Guten Tag. Die folgenden fünfzehn Personen sind ausgewählt worden, die zweijährige Theaterausbildung der Schule besuchen zu dürfen.«
Als sie dann anfängt, die Namen der Kandidaten vorzulesen, nimmt sie sich extrem viel Zeit. Sie spricht ärgerlich deutlich, und es geht langsam, langsam, langsam:
»Nummer sieben – Jansson, Betina.
Nummer acht – Bylund, Fredrik.
Nummer neun – Bergmann, Kristinus.
Nummer zehn – Alfredius, Sara.
Nummer elf …«
Ich bin drin. Sara. Zucken im Bauch . Ich rufe den Anrufbeantworter noch einmal an. Dieselbe langsame, aber doch nicht mehr so ärgerlich pädagogische Stimme antwortet:
»Nummer acht – Bylund, Fredrik.« (Der Pferdeschwanztyp)
»Nummer neun – Bergmann, Kristinus.«
Zucken im Bauch, Geräusch.
»Nummer zehn – Alfredius, Sa...«
Keine Einkronenstücke mehr. Aber ich habe gehört, was ich hören wollte, meinen Namen, oder zumindest den von Kristinus Bergmann, und plötzlich begreife ich den Zusammenhang. Habe ich jetzt etwas gefunden, wird es mir gut gehen, werde ich gesund, finde ich ein neues Leben? Komme, komme nicht, will, will nicht?
Ich gehe frenetisch die Hauptstraße auf und ab, überlege, denke nach und spekuliere. Die Schule beginnt in drei Monaten, bis dahin kann ich auf dem Hof arbeiten, essen, wie ich es jetzt tue, Zwänge und Rituale abarbeiten, und vielleicht werde ich, wenn die Schule beginnt, so gut wie gesund sein. Ich merke, dass etwas passiert, etwas anderes, etwas ganz anderes. Doch. Ich muss so denken – dass der Beginn von etwas Neuem in drei Monaten auf mich wartet. Das Theater scheint mich zu mögen, jetzt muss ich noch lernen, das Theater zu mögen. Vielleicht, indem ich eine Menge Stücke lese, Stücke von Dramatikern ohne x, z und y im Namen. Doch. Ich muss so denken. Da drinnen in der Schule konnte ich mich ja kaum bewegen. Ich habe immer öfter und immer intensiver zwangshandeln müssen, und gegen Ende des Workshops bin ich vor Müdigkeit und Hunger fast ohnmächtig geworden. Wie um Himmels willen soll ich es schaffen, zwei Jahre lang dorthin zu gehen? Ich muss den Schweiß aus dem Körper arbeiten, die Rituale aus dem System, die Zwänge aus dem Hirn, die Tics aus dem Mund. Vielleicht ist das die einzige Methode, die Schule bewältigen zu können. Das und Odin. Odin ist da, und es wird ihn geben als Notlösung, wenn alle Hoffnung dahin ist, so beschließe ich. Doch. Ich muss so denken. So muss es sein. Einfach so.
In zwei Tagen läuft meine Interrailkarte ab. Das reicht, reicht lange. Morgen nehme ich den Nachmittagsexpress nach Oslo, gehe direkt vom Hauptbahnhof zur alten Dame und dem Zimmer, das ich gemietet hatte. Ich hole den Pappkarton mit den Kleidern, gehe zum Hauptbahnhof zurück und nehme den Nachtzug zurück nach Schweden. Danach werde ich nie wieder nach Oslo fahren. Das ist das letzte Mal. Dann nie wieder.
Heute Abend nehme ich den Nachtzug nach Stockholm und schlafe mich wie gewöhnlich hin und zurück.
Mit dieser Entscheidung bin ich zufrieden. So zufrieden, dass ich Platen anrufe und erzähle, dass ich morgen einen Termin habe, dass ich am Dienstag zurückkomme, dass es dann wieder an der Zeit ist reinzuklotzen. Und ich denke auch noch daran, den Anrufbeantworter von der Theaterschule anzurufen und zu verkünden:
»Mein Name ist Kristinus Bergmann, und ich nehme den Platz an.«
Gibt es etwa noch so einen?
Montagnachmittag.
Ich sitze auf einer Bank auf dem Bahnhof, betrachte die Güterzüge, die wechselnden Waggons, die immer dunkler werdenden Wolken, die über die Bucht hereinziehen, einen einsamen Taxifahrer, der in seinem Auto sitzt und die Abendzeitung liest. Meine neue Situation verursacht ein Gefühl der Verwirrung. Vielleicht weil die neuen Alltagsgedanken sich an den kranken Gedanken vorbeizudrängeln versuchen, vielleicht erzeugt gerade diese Begegnung der Gedanken eine Art Explosion im Gehirn, ich weiß es nicht, vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Ich sitze ganz regungslos auf der Bank, wage kaum, die Finger zu bewegen, um nicht in irgendwelchen langwierigen Ritualen gefangen zu werden. Ich denke an die Arbeit auf dem Hof, am See. Ich denke an die Theaterschule, wo ich wohnen, schlafen, essen werde, und ans Geld.
Und wieder spüre ich, dass es unter dem Nabel anfängt zu jucken, als wäre ich von einer King-Kong-Mücke gestochen worden. Ich finde aber keinen Ausschlag und keine Anzeichen von Bissen oder
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