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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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verspüre ich Übelkeit und Nervosität. Ich kann das Risiko nicht eingehen, vor irgendeiner Türschwelle in der Stadt, oben bei der alten Dame oder in irgendeiner Straße hängen zu bleiben. Das Odinzeug ist die einzige Möglichkeit, nichts zu riskieren. Es wird mir sicher ein paar schmerzfreie Stunden verschaffen und mich auf der Spur halten, bis der Nachtzug um elf Uhr heute Abend Oslo wieder verlässt.

    Von der Grenze sind es ungefähr zwei Stunden bis zum Hauptbahnhof Oslo. Wenn ich die Tabletten anderthalb Stunden vor der Ankunft in dem Zitronensprudel auflöse, dann sollte die Wirkung gerade dann am besten sein, wenn ich den Zug am Hauptbahnhof verlasse. Genau, so soll es sein.

    An der Grenze bleibt der Zug, wie ich finde, ziemlich lange stehen. Schaffnerwechsel. Die schwedische dunkelblaue Uniform wird gegen eine etwas strengere, militärische Uniform in rot, weiß und blau ausgetauscht. Der neue Schaffner scheint aus irgendeinem Regiment weit im Süden der Welt handverlesen zu sein. Er wirkt ernst, als habe er schwere persönliche Probleme, murmelt ein säuerliches »Die Fahrausweise, Fahrausweise, bitte«. Er schaut auf meine Interrailkarte und beäugt meinen Körper, meine Kleider, meinen Geruch, schaut auf die Ledertasche, die Schuhe, das Knäckebrotpaket, das vor mir auf dem Tisch liegt. Er bleibt ärgerlich lange stehen, ich schaffe es nicht, einen nervösen Tic zurückzuhalten – Zucken im Bauch, Geräusch . Da sieht er mich an, als sei ich dieser berühmte Affe im Käfig, er hält immer noch die Interrailkarte in der Hand, sieht sie sich ein weiteres Mal an, als würde er sie für gefälscht halten. Dann gibt er mir die Karte, doch ehe ich sie greifen kann, lässt er sie los, so dass sie im Mittelgang auf den Boden fällt, was bedeutet, dass ich mich vorbeugen und ein neues Ritual durchführen muss, ein Ritual, das mich zehn weitere Minuten meines Lebens kostet. Ich weiß, dass er so getan hat, als würde ihm die Interrailkarte runterfallen, weil er meine dreckigen Finger nicht berühren wollte. Ich hätte nicht übel Lust, den Schaffner umzubringen, ihm eine Tüte verrotteter Fischeingeweide über den Kopf zu stülpen und ihn kaputt zu stinken. Er bittet mich sogar, das Radio leiser zu machen. Außer mir befindet sich nur ein älterer Herr, der ganz hinten sitzt, in diesem Wagen, aber dennoch bittet mich der Gestaposchaffner, das Radio leiser zu drehen. Aber mir ist das scheißegal, außerdem ist es gleich drei, was bedeutet, dass gleich Nach drei kommt.

    Jetzt haben wir die Grenze passiert, und der verdammte Wald beherrscht den Ausblick. Wieder habe ich Lust, aus dem Zug zu springen und einen Bus zurück zu nehmen, was auch immer zu tun, um nicht von staatlichen Gestaposchaffnern gedemütigt zu werden. Aber ich kann mein Schicksal nicht selbst bestimmen, ich habe keine Wahl, der Zug wird erst in ein paar Stunden wieder anhalten, und da werden wir bereits am Hauptbahnhof sein.

    Ich lege mir das Radio auf den Schoß, lehne mich zurück und sehe aus dem Fenster. Es regnet, wieder einmal, das macht es doch immer hier an der Grenze. Im Hintergrund beginnt Nach drei , die Erkennungsmusik ist mir schon in Fleisch und Blut übergegangen. Auch diesmal höre ich nicht, was Elfving über das heutige Programm sagt, ich kratze mich unter dem Nabel und rücke einen Zahn zurecht, der irgendwie falsch zu sitzen scheint und auf eine seltsame Weise in meine Wange drückt. Vielleicht ist ein Song gespielt worden, ich erinnere mich nicht, ich höre nur mit einem Ohr zu.

    Und plötzlich geschieht es. Im Hintergrund. Die Radiostimme erklärt irgendetwas. Sie klingt ziemlich akademisch, ziemlich trocken, aber dennoch menschlich trocken. Ein Junge sitzt auch im Studio, sechzehn oder achtzehn Jahre vielleicht. Und ich merke, wie mein Bauch sich anspannt, zuckt, ich beginne zu zittern, es zuckt wieder und wieder. Und ich höre die Worte, die da ausgesprochen werden, die wiederholt werden und noch einmal wiederholt und die direkt in mich hineingepumpt werden:

    ... Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, Zwangsverhalten, Bazillen, Krankheit, Tod, Tics, Tourette Syndrom …

    Mein Bauch ist dabei zu explodieren, der ganze Körper bewegt sich vor und zurück, und mir bricht der Schweiß aus, ich friere und schwitze abwechselnd. Ich packe den Bic-Stift und kritzele verwirrte Worte auf meine Interrailkarte. Der Junge im Studio erzählt von seinem schweren Alltag mit den Zwängen. Wie es ihm ging. Jetzt geht es ihm wieder besser.

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