Herr Tourette und ich
Jahren, wahrscheinlich ungefähr als ich in die Schule kam, sein AiP-Jahr in meinem Land, in meinem Landkreis und in meinem Nachbardorf abgeleistet hat. Erst habe ich ihn in Verdacht, dass er sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber das Misstrauen verschwindet schnell, sowie er anfängt, Orte und Familiennamen zu nennen. Außerdem weiß er ganz genau, wie stolz das Dorf auf das alljährliche Lachsfest ist. Nein, er macht keine Witze mit mir. Levander hat sanfte Augen, einen entschlossenen Mund, eine undefinierbare Nase.
Er schaut in die Papiere, liest, was Mindus geschrieben hat, scheint aber meine Problematik in- und auswendig zu kennen. Ich merke, dass ich auch hier an der richtigen Stelle gelandet bin – die Person vor mir versteht, was hinter meinen zwangshandelnden Gedanken und ticsenden Fingern steht. Ich bin richtig erleichtert – Zucken im Bauch, Geräusch. Levander scheint sich auch nicht um die Tics zu scheren. Hauptsächlich sieht er meine Kleider, meine Haare und mein Gesicht an. Wahrscheinlich ist ihm langweilig, denn verglichen mit dem Schnurrbartmann fünf Meter unter uns, bin ich doch die reinste Lappalie. Doch Levander ist interessiert, wenn er auch nicht viele Fragen stellt, da er die Antworten schon zu kennen scheint. Ich erzähle trotzdem von meinem Leben, meinen Ritualen und Zwangsgedanken. Er lacht nicht, zwischendrin lächelt er mal, aber er lacht nicht. Scheinbar macht er sich Notizen. Er meint, ich solle ein Wundermittel aus den USA ausprobieren, das Anafranil heißt. »Wenn Anafranil nicht funktioniert, dann kriegen Sie Fevarin, und wenn Fevarin nicht funktioniert, dann kriegen Sie ganz einfach eine Überdosis Margarin.« Er sieht ernst aus, ich auch, aber dann lacht er extrem lange über seinen eigenen Joke.
Er gibt mir ein Rezept, und ich soll SOFORT anfangen, die Medizin zu nehmen.
Ehe ich gehe, sagt er ebenso selbstverständlich und direkt wie zuvor:
»Sie sind kein reicher Mensch, also verlassen Sie meine Räume bitte durch die Hintertür, also nach links durch den Notausgang. Dann müssen Sie nicht eintausendfünfhundert Kronen Gebühr bezahlen. Sie sind kein schwedischer Bürger, nicht angemeldet, nicht reich. Ich hingegen bin eine sehr, sehr wichtige Person. Als Gegenleistung möchte ich, dass Sie bereit sind, sich filmen zu lassen, damit ich meinen Studenten zeigen kann, wie einer wie Sie denkt.«
Ich schleiche durch den Notausgang hinaus. Das muss ich ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Mal + vier Wiederholungen machen.
Die Medizin funktioniert nicht wie gedacht. Ich schwitze wie blöd, Tag und Nacht, morgens und abends. Ich kann keine Veränderung feststellen, ich zwangshandele weiter drauflos und führe die täglichen Rituale aus, mit denen zu leben ich inzwischen gelernt habe, die ein Teil meiner Persönlichkeit geworden sind. Ich treffe mich mit Levander zum Filmen. Levander fragt, ich antworte, und eine halbe Stunde später ist alles vorüber. Dann darf ich in seinem wohlriechenden und einladenden Land Rover nach Malmö hinein fahren. Dort nehmen sie eine Blutprobe, die beweist, dass mein Blutkreislauf das Anafranil aufgenommen hat, aber ich gestehe, dass ich mich gar nicht besser fühle. Und da kommt der dritte Bock Bruse ins Bild. Levander sagt, es würde einen Menschen geben, der sich wirklich mit Zwangshandlungen auskennt und vor allem das beherrschen würde, was man Kognitive Verhaltenstherapie nennt.
Der dritte Bock Bruse
Lasses Team ist im Begriff, in Südschweden eine OCD -Schule aufzubauen, und sie brauchen Patienten, mit denen sie sprechen und an denen sie die Methode testen können. Levanders Beschreibung von mir gefällt Lasse, er wird neugierig auf meine Persönlichkeit, stimmt einem Treffen zu, denn ich könnte »mögliches grundlegendes Material« darstellen.
Unsere erste Begegnung findet über das Telefon statt. Lasse ist direkt. Er redet nicht rum, windet sich nicht, er ist konkret. Wir haben kein längeres persönliches Gespräch, es gibt keine großartige Vorstellung. Lasse sagt einfach nach ein paar Minuten:
»Nehmen Sie sich ein Papier, eine Serviette oder was auch immer, und versuchen Sie zu notieren, wann Sie ritualisieren müssen und wann die Zwänge auftauchen.«
Er wartet am anderen Ende der Leitung. Ich empfinde einen furchtbaren Widerstand. Weil ich nicht wage, es hinzuschreiben, fange ich stattdessen vorsichtig an, zu erzählen. Die Minuten vergehen, ich erzähle, teilweise, annäherungsweise:
»Es dauert
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