Herr Tourette und ich
werden.
Nach einer Woche werde ich weitergeschickt. Die Reise von einem Bock Bruse zum nächsten geht weiter.
Mindus erklärt:
»Sie werden einen Mann in Malmö kennenlernen. Er heißt Levander. Er möchte Sie auch kennenlernen. Er kennt sich mit Tourette besser aus als irgendjemand sonst. Er kennt die Möglichkeiten.«
Da muss ich an das Erste denken, das Mindus zu mir gesagt hat und das sich irgendwie in meinem Kopf festgesetzt hat – zu siebenundneunzig Prozent schwerbehindert. Siebenundneunzig Prozent. Das bedeutet, dass es bis hundert immer noch drei Prozent sind. Ehe ich abreise, frage ich Mindus, wofür die letzten drei Prozent stehen.
»Für die Hoffnung«, antwortet er. Und weiter:
»Sie sind zu siebenundneunzig Prozent behindert, Sie haben drei Prozent Hoffnung. Und das ist verdammt viel Hoffnung, das sage ich Ihnen. Hätte ich zu hundert Prozent schwerbehindert geschrieben, dann wären Sie in einer Anstalt gelandet. Hundert Prozent ist hoffnungslos, siebenundneunzig Prozent ist nur teilweise hoffnungslos, aber vor allem sehr hoffnungsvoll. Ich verspreche Ihnen: Drei Prozent ist verdammt viel Hoffnung.«
Ich rufe ungefähr jeden Tag bei meiner Familie an und berichte, wie es mir mit den Besuchen bei Mindus geht. Ich fühle mich besser, es geht mir aber nicht besser. Die Rituale sind so gegenwärtig wie zuvor, aber nach allem, was geschehen ist, scheint es, als hätten sich die Vorzeichen verändert. Es gibt Hoffnung, drei Prozent Hoffnung schweben über mir, und ich versuche mir einzureden, dass es mir bereits viel besser geht.
Im Zug nach Skåne, der über Göteborg führt, blättere ich in Zeitungen und einem Bündel Studienbroschüren. Natürlich habe ich nicht die geringste Chance, für eine der Ausbildungen, die da so farbenfroh angepriesen werden, aufgenommen zu werden – ich bin nichts und habe nichts gemacht, und ich werde auch ziemlich lange nichts machen. Ich muss an die Theaterschule denken, auf der ich fast angefangen hätte, und mir wird schon jetzt klar, dass das eine satte Katastrophe gegeben hätte, nicht nur für mich, sondern für die Schule. Zwischen all den Broschüren finde ich einen einjährigen Körper-Theaterkurs. Schon wieder dieser Grotowski, der der Gottvater dieser Theaterform zu sein scheint. Am Hauptbahnhof von Göteborg werfe ich eine Bewerbung in einen Briefkasten. Man weiß ja nie.
Ein paar Tage später erscheine ich in der Sprechstunde von Professor Levander, vor den Toren von Malmö. Im Wartezimmer sitzt außer mir noch ein anderer Mann. Der Mann spricht mit sich selbst, schaukelt den Körper immer wieder vor und zurück. Er hat sich den halben Schnurrbart abrasiert, und er murmelt und hustet und redet mit sich selbst. Werde ich nach einem Monat in diesem Haus auch so aussehen? Ich habe nicht übel Lust, wegzurennen, alles egal sein zu lassen und zurück nach Stavnäs zu reisen, den Bauern um Entschuldigung zu bitten – mein Guter, bitte lassen Sie mich weiter Fischköpfe abschneiden, die Eingeweide aus dem Bauch graben und mit dem Nachtzug hin und her fahren. Lieber das, als mit einem schaukelnden, murmelnden halbschnurrbärtigen Verrückten in einem Raum zu sitzen.
Ich sehe mir die Infotafel an der Wand an. Erleichterung – »Prof. Levander 2.Stock«.
Im zweiten Stock bin ich allein, so allein, dass ich schon glaube, mich verlaufen zu haben. Nur wenige Minuten später kommt ein mittelgroßer Mann den Flur entlang. Er trägt einen Ordner unter dem Arm, ein hellbraunes Cordjackett, hellbraune Cordhosen, halblange Haare und einen Bart.
Der zweite Bock Bruse
Er sieht mich nicht an, jedenfalls kommt es mir so vor. Er öffnet die Tür, gleitet elegant über die Türschwelle. Ich bin nach zehn Minuten Ritualisierens in seinem Zimmer. Überraschend effektiv. An das Zimmer erinnere ich mich kaum, hingegen entdecke ich sofort eine Akustikgitarre, die ganz nett da steht und sich an seinem Schreibtisch ausruht. Eine Gitarre. Gut, denke ich. Er scheint nicht viereckig, sondern eher dreieckig zu sein, was ich mag. Ich versuche, mich hinzusetzen, aber die Rituale bitten mich, das Ganze doch mindestens viermal zu wiederholen. Levander scheint das mit Gelassenheit zu nehmen, er ist es gewohnt und nimmt stattdessen einen Packen Papier heraus, den er auf dem Schreibtisch ausbreitet. Als ich mich endlich hingesetzt habe, fragt er und überrumpelt mich damit total:
»Ach so … gehen Sie auch auf Lachse?«
Es stellt sich heraus, dass Levander, in jungen
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