Herr Tourette und ich
tun. Im Hockey darf man fies sein, fluchen, kloppen, fallen, schubsen, das ist sozusagen ein Teil des Spiels. So wird Hockey zum Traumsport für mich, eine wunderbare Sportart mitten in der faschistischen Skilanglaufsoße, die wir aus Gründen der Tradition betreiben müssen, wie uns unser Sportlehrer immer wieder versichert.
Mein Hockeystil ist kein Stil, sondern hauptsächlich ich, ein Puck und ein Schläger.
Ich bin Sportkommentator und Wayne Gretzky gleichzeitig. Wenn wir ein Bully ausführen, beuge ich mich vor und kommentiere »und jetzt wird Wayne Gretzky gegen die hässliche Salamifresse der anderen Mannschaft ein Bully machen«. Die hässliche Salamifresse der anderen Mannschaft ist beim ersten Bully dermaßen schockiert, dass er einfach nur mit offenem Mund und verlorenem Puck im Ring stehen bleibt. Beim dritten Bully fühlt er sich provoziert und versucht, seinen Schläger unter meinen linken Schlittschuh zu schieben. Er versucht es noch mal, und es gelingt ihm. Er lächelt, aber ohne den Mund aufzumachen. Ich falle hin, rappele mich aber wieder auf, lache, sodass das Eis widerhallt, vollführe ein paar Pirouetten, als würde ich eine Art Kombinationssport ausüben, eine ticsige Mischung aus Hockey und Eistanz. Ein paar Sekunden später rausche ich hinter der hässlichen Salamifresse der anderen Mannschaft her. Er versucht vor mir zu fliehen, aber ich bleibe dran – lachend, rufend, kommentierend. Der Schiedsrichter versucht mich aufzuhalten, die hässliche Salamifresse in der anderen Mannschaft ist so ängstlich, verwirrt oder geschockt, dass er in die Box hüpft, dann runter in die Umkleide und sich auf der Behindertentoilette einschließt. Plötzlich steht unser Trainer mit verschränkten Armen vor dem Spielereingang:
»Hör mal, das ist nur ein Spiel.«
»I don’t think so«, antworte ich mit Wayne-Gretzky-Stimme.
»Was?«
»I said, I don’t think so.«
»Jetzt red mal normal.«
»Yes Sir, I can boogie.«
Ich denke überhaupt nicht darüber nach, dass wir in unterschiedlichen Lines spielen. So wie Wayne Gretzky habe ich eine Wildcard für alle Lines gleichzeitig. Und irgendwie mag ich unseren Trainer. Er lässt mich spielen und streiten und auch rumwuseln. Ich darf Wayne Gretzky sein und in fünf Lines gleichzeitig herumkreisen. Ich mache unendlich viele Tore, aus Winkeln, die nicht mal als Winkel definiert werden können, werfe mich ins Gewühl aus Spielern – und der Puck rutscht ins Tor.
Für mich ist es der reine Zwang, für die anderen der pure Aberglaube:
1. Vor jedem Spiel muss ich vor den anderen aufs Eis. Ich lege mich auf den Bauch und lecke die Blueline von der linken bis zur rechten Kante mit der Zunge ab – blau = nördlich = Kälte = keine Bakterien = rein = gut = Zucken im Bauch.
2. Während des Spieles darf ich mit den Schlittschuhen nicht die roten Punkte oder die Redline berühren – rot = südlich = Wärme = Schweiß = Bazillen = Ansteckung = Tod = böse = Zucken im Bauch.
Also springe ich auf dem Eis herum, vermeide die roten Punkte, hüpfe über die Redline und bewege mich, als würde ich eine eigene Art des Eistanzhockey spielen. Und das Publikum gewöhnt sich daran – zumindest bei den Heimspielen. Das ist sein Stil, seine Art, eine seiner vielen Arten. Wenn ich nach den Hockeyturnieren nach Hause komme, bin ich ausgepowert, klar, rein, still. Mehrere Stunden ohne einen einzigen Tic folgen, als wäre Ruhe mein Vorname und Stille mein Nachname.
Wenn es einen Gott gibt, dann hat er mir Hockey als Abendmahlsgewand gegeben – und die Mädchen als Abendmahlswein. Ich kann es nicht erklären, aber die Mädchen scheinen mich zu mögen, wir ziehen uns an. Dabei habe ich überhaupt keinen großen und kräftigen Hockeykörper. Ich bin ziemlich lang, schmal und habe dünne Beine. Unfreiwillig viele Locken hängen mir vor der Nase herum – und ich ticse und zwangshandele. Der Grat zwischen hoffnungslosem Idioten und Playboy ist ganz schmal. Meine praktische Verrücktheit siegt über das methodische Idiotentum.
Auf den Klassenfesten bin ich der einzige Junge, der freiwillig tanzt. Und zwar ohne Alkohol oder eine Überdosis Snus unter der Oberlippe. Und wenn man als Junge allein tanzt, ohne ein Mädchen aufzufordern, dann ist man entweder verrückt oder schwul. Ich gehöre zur ersten Kategorie, aber ohne es geplant zu haben. Mein Tanzstil, wenn das Wort Stil hier überhaupt zur Anwendung kommen kann, enthält eine Menge unkontrollierter Bewegungen,
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