Herr Tourette und ich
ausgebreiteter Arme und Beinzuckungen, die mit einzelnen Geräuschen und Stöhnern gewürzt werden. Ich beschreite die Tanzfläche, als würde ich eine fremde Macht überwältigen, mit den Tics als Panzer und den Beinen als Maschinengewehren. Um mich herum fallen die Mädchen wie die Kegel, meine Arme sausen hoch und runter, ich bin wie ein entflammter John Travolta auf drei Beinen und mit Krücke. Es ist immer eine bestimmte Musik, die mich entzündet. Vor allem Nazareth und Toto. Auf ihre Musik fahre ich total ab, weil sie unglaublich langweilig ist. Alle Jungs stehen in einer Reihe, wie bei der Musterung, und glotzen zu den Mädchen rüber, die wiederum einander anglotzen und sich glotzend auf der Tanzfläche bewegen. Und mir ist langweilig. Ich gucke Oskar, Jomar, Frank, Jesper und Ole an – langweilig. Als der Sänger von Nazareth losjault, ist es genau das, was mir einen Schlag in den Bauch verpasst und mich auf die Tanzfläche hinaustreibt. Ich zucke zusammen, der Mund entgleist, ich beuge mich herunter, verdrehe den Körper, drehe mich herum und herum und herum und schwupp und schwupp und schwupp – Lachen + Mädchen + ich + tics + Nazareth = Erfolg. Die Mädchen tanzen auf mich zu, jede hält mich an einem Arm, sie schieben mich vor und zurück, ich schiebe sie weg, um mich dann wieder heranzuschieben. Ich genieße es, schaue zur Decke, drehe mich herum, rufe oh Mama . Der Mathematikidiot ist verschwunden, das Tanzgenie und der Playboy sind da. Alle klatschen im Takt, ich suche ein Mädchen aus, und dann machen wir hundert steinharte Meter Tanzboden – sie ist der Feudel, ich der Besen, dann ist sie der Besen, ich der Feudel. Ich schwebe in einem Rausch, in einem Zustand, in dem ich niemals unglücklich sein kann. Dann tanze ich im Grunde genommen mit allen Mädchen, die da sind, wieder und wieder. Ich lege die Hand auf den Mund von Iris, den Hintern von Minna, die Haare von Lena, den Mund von Eva, die Haare von Minna, den Hintern von Lena, oh Mama and yes Sir, I can still boogie woogie . Oft landen wir auf dem Kiesweg hinter dem Tanzlokal. Da stehen die Leute und trinken und reden und schreien – und knutschen. Ich weiß ja, dass alle da sind, alle sehen alles, was geschieht, und die Gerüchteküche brodelt. In nur wenigen Stunden werde ich da im Klassenzimmer sitzen mit einer weiteren Idiotennote auf dem Tisch vor mir, einer Klassenarbeit voller roter Anstreichungen und Fragezeichen. Die anderen werden ihre Ergebnisse untereinander vergleichen, werden einander fragen, werden mich fragen, und ich werde wieder einmal still lügen, schon ok, einigermaßen, kann durchgehen. Auf diese Weise wird der Kiesweg zu meiner eigentlichen Arbeit, zu meiner wichtigsten Note. Je öfter ich herumknutsche und die Mädchen anfasse, desto weniger wichtig werden meine Noten – wenn er die hübschesten Mädchen kriegt, dann sind die Zensuren egal. Wenn ich dann noch eine Kanone im Hockey bin und zufällig beim Bodycheck Oskar zu Tode erschreckt habe, dann werde ich zu einem guten Gerücht und bin nicht nur mehr ein schlechter Witz. Ich weiß das auszunutzen, und so locke ich die Mädchen mit mir zum Kiesweg, damit alle meinen jüngsten sehr guten Fang bezeugen können. Und dann fangen wir an, uns anzufassen. Ich stecke die Hand unters Hemd, suche, finde, packe zu. Am besten kenne ich mich unter Evas Hemd aus, ihre Brust ist schwerer zu finden, auch wenn sie sie meist selbst hinhält, vor allem wenn ich zu lange suche. Nachdem ich fertig gestreichelt habe, renne ich weg, nicht ohne »yes Sir, I can boogie woogie und der Hintern furzt am Himalaya!« zu rufen. Ich kehre auf die Tanzfläche zurück, tanze, schreie und knutsche weiter. Die Zunge und die Beine steuern meinen Einsatz total – die Beine als Trommelschlegel, die Zunge wie eine Waschmaschine auf zwei Beinen. Die anderen stehen daneben und glotzen und glotzen nur, mit offenen Mündern, aus denen der Snussaft das Kinn hinuntersickert. Als Oskar kommt und sich reintanzen will, schubse ich ihn beiseite, als wäre er eine Schmeißfliege von der Langlauffraktion, die ich dann mit einer Tanzbewegung zermatsche. Wenn die Musik zu Ende ist, bin auch ich am Ende. Die Tics verschwinden einfach. Ich werde still und gehe weg, ein gediegenes Antiklimax tritt ein. Ich traue mich nicht, ein Mädchen mit nach Hause zu nehmen, die Zwangshandlungen und Tics und Rituale sind zu aufmüpfig, sie können mich leicht wieder ins Fach der hoffnungslosen Idioten zwingen. Das lasse ich lieber
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