Herr Tourette und ich
vielleicht hundert, vielleicht fünfzig, vielleicht fünfzehn Meter entfernt. Ich erstarre, der Körper gefriert, ich rühre mich keinen Millimeter, atme kaum. Die Person bleibt stehen. Die Person geht noch ein paar Schritte weiter, ehe sie wieder stehen bleibt. Eine dünne und sanfte Stimme durchbricht die Stille:
»Komm jetzt nach Hause. Wir mögen dich trotzdem«, sagt meine kleine Schwester. »Komm jetzt nach Hause …«
Pause. Ich sage:
»Ich will sterben.«
»Jetzt hör auf.«
»Ich will sterben. Ruf den Bauern an und bitte ihn, mit dem Mähdrescher zu kommen.«
»Du …«
»Nein …«
»Komm nach Hause …«
»Ich will aber sterben …«
Langes Schweigen. Die kleine Schwester fährt fort:
»Mama hat Pfannkuchen gemacht.«
Langes Schweigen.
Pfannkuchen?, denke ich.
Zucken im Bauch, Geräusch. Ich stehe schnell auf und sage:
»Na gut.«
Vom Clown zum lebensgefährlichen Clown
Nach dem Bodycheck werde ich mit anderen Augen betrachtet. Aus schräg wird unberechenbar, der Clown wird zum lebensgefährlichen Clown. Es ist, als hätte ich einen Preis gewonnen, den Oscar für den besten Bodycheck des Jahres. Niemand wagt mehr, etwas gegen mich zu sagen oder mich zu reizen. Die Graupelschneebälle haben nicht mehr mich zum Ziel, der Jackengürtel wird in Ruhe gelassen, niemand wartet am Eingang, niemand kommentiert, niemand guckt oder lacht oder ruft. Alle scheinen jetzt fest davon überzeugt zu sein, dass, wer zufällig über mich lacht oder mich reizt, eine doppelte Portion Rache riskiert, die allerhöchstwahrscheinlich mit einem unfreiwilligen Arztbesuch enden wird. Also darf ich tun, was ich will, gehen, wohin ich will, niemand stellt sich mir mehr in den Weg. Die meisten nicken mir einfach nur zu, sagen ja und lassen mich in Ruhe. Im Sport wollen plötzlich alle in meiner Mannschaft spielen, und das nicht aus sportlichen Gründen, sondern ganz einfach aus gesundheitlichen. Wenn ich den Ball kriege, weicht die gegnerische Mannschaft automatisch zurück, und ich habe freie Bahn aufs Tor. Für mich persönlich ist das überhaupt nicht lustig oder aufregend oder herausfordernd. Ich will schließlich Gegenwehr, Bodycheck und Schimpfen, will Knuffen und Boxen, will mich tough fühlen. Aber jetzt ist der Sportunterricht wie jede andere langweilige Unterrichtsstunde auch. Ich versuche, Situationen zu provozieren, aber das endet immer damit, dass ich einen Freiwurf bekomme. Selbst der Sportlehrer ist freundlicher geworden, er diskutiert nicht mehr so oft wie früher und gibt mir fast Recht, wenn ich über die Temperaturen in der Sporthalle meckere oder Regeln erfinde, die es nicht gibt. Der Bodycheck hat mir einen Freifahrtschein gebracht. Ich darf mit rumhängen, wenn ich will, ich habe mir Respekt erworben, und das war wie immer überhaupt nicht geplant.
Jomar und Oskar vermeiden es, mir in die Augen zu sehen und auf meine Fragen zu antworten. Oskar darf immer noch nicht wieder hundertprozentig beim Sport mitmachen, was ihm vielleicht auch gar nichts ausmacht. Als ich ihn bitte, dass er verdammt noch mal doch aufhören soll, zum Mittag Mohrrüben zu essen, sagt er, seine Mutter würde ihn dazu zwingen. Aber er hört auf, sie im Klassenzimmer zu essen. Und das macht es sehr viel leichter für uns beide. Seine Mutter macht ihm immer noch dieselben Wolkenkratzer aus Salamibroten mit demselben verschwitzten und ekligen Butterbrotpapier zwischen jeder Salamietage. Aber jetzt stört mich das nicht mehr so wie vor dem Bodycheck, es reicht schon aus, wenn ich ein Zucken oder einen Impuls bekomme, und Oskar geht mit seinem Salamiwolkenkratzer auf den Flur und isst ihn dort auf.
Draußen auf Bodø Millionen entdeckt
»Öl und Gas am selben Ort gefunden. In Verdalen werden Bohrplattformen errichtet.«
Erste Seite der Lokalzeitung, 1980.
Wir sollten auf die Ölbranche setzen. Etwas werden, dem Land zu Erfolg verhelfen, Einsatz für kommende Generationen zeigen. Und tatsächlich fangen viele von uns an, in der Schule zielgerichteter zu lernen. Mit dabei zu sein, geht nun allmählich über in: etwas zu sein, und das soll einen wiederum zu etwas bringen. Du bist, was du tust. Du bist dein Einkommen. Um jemand zu sein, muss man lernen, sich zu konzentrieren, und vor allem Noten bekommen, gute Noten, beste Noten. Deshalb arbeiten die meisten in der Klasse härter und intensiver, ihnen ist bewusst, dass die Zukunft an der nächsten Ecke wartet.
Mathematik und Physik und Chemie sind die
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