Herr Tourette und ich
bleiben.
Am Montag bin ich wieder in der Schule, und die Notenhölle geht weiter, die Errungenschaften des Wochenendes sind vergessen. Doch die anderen in meiner Klasse erinnern sich daran, und ich spiele mit. Aber ich würde meine Errungenschaften gern dafür hergeben, einmal eine Arbeit so schreiben zu können, wie die anderen es tun, ohne Wegradieren und Umschreiben, ohne neu lesen zu müssen, die Gedanken verdrehen oder rückwärts ticsen zu müssen. Schon am Mittwoch fange ich an, ans nächste Wochenende zu denken, das nächste Fest, den nächsten Kiestag. Allerdings gibt es nicht viele Mädchen zur Auswahl, und fünfundzwanzig Prozent davon sind auch noch verwandt miteinander. Die einzige Möglichkeit, die mir bleibt, ist, wieder von vorn anzufangen – mit Minna knutschen und nach Evas Brust suchen. Und so geht es weiter, Samstag um Samstag, ein Wochenende nach dem anderen.
Am meisten denke ich an Line. Sie redet nicht so viel, mag aber Musik und Bücher. Sie liebt Kate Bush, hat alle Platten, sogar die Singles. Und außerdem schreibt sie Gedichte, sie will Poetin werden, die erste professionelle Poetin des Landes. Und Line ist schlau. Sie hat gute Noten und eine schöne Handschrift. Im Sport ist sie nicht so gut, obwohl ihr Vater das Sportgeschäft hat. Sie bewegt sich gleitend und weich, und dann schaut sie mich die ganze Zeit an, so ernst, ganz egal, ob es in der Mathestunde ist oder beim Sport. Wenn sie mich so ernst ansieht, verspüre ich ein gewisses Zucken im Bauch und ein Rucken zwischen den Beinen. Sie tanzt gern, tanzt aber – so wie ich – oft allein. Aber Line bewegt sich elegant, ich bewege mich einfach nur. Sie ist schwer zu kriegen, und viele haben schon von ihr geträumt, aber niemand hat je mit ihr geträumt. Und ich kriege sie.
Ich kriege sie auf eine andere Weise. Nach der Leichtathletikstunde, der langweiligsten alles Sportstunden, sollen wir zu zweit dehnen – massieren, Knie hochheben, Rücken aneinanderpressen, Balance halten.
Lina sieht mich ganz ernst an, dann kommt sie auf mich zu.
»Du und ich«, sagt sie und nimmt meine Arme, in die sie dann ihre einhängt. Wir setzen uns auf den Boden, Rücken gegeneinander. Dann pressen wir, vorsichtig und rhythmisch. Die anderen in der Klasse haben uns schon Blicke zugeworfen. Ich merke, dass sie gerade wieder ein Hubbabubba-Kaugummi gegessen hat. Der Duft ist noch da. Himbeere. Und ich mag ihn – Zucken im Bauch, kleines Geräusch .
Sie lächelt ein wenig, wenn ich ticse, kommentiert es aber nicht. Oskar sitzt auf dem Hintern und presst seinen Rücken gegen den von Jomar. Er sieht zu uns rüber, aber als ich seinem Blick begegne, schaut er wieder zu Boden. Wir drehen uns um. Lina sieht mich an, wieder so ernst. Sie legt sich auf den Rücken, und ich merke, dass eine ihrer Haarspangen rausrutscht. Aber ich sage es nicht.
Also liegt sie auf dem Rücken und streckt die Hände nach hinten. Dann nimmt sie das linke Bein hoch, und jetzt soll ich meinen Körper gegen ihr Bein lehnen, so dass die Muskulatur in ihren Waden und Oberschenkeln gedehnt wird. Die anderen in der Klasse lachen ein wenig über einander, die Bewegung selbst ist ein wenig peinlich, vor allem die Jungs versuchen, sie so gut es geht zu vermeiden. Jetzt hört man überall verschämtes Lachen. Aber nicht von Line. Sie liegt auf dem Rücken und sieht mich wieder so ernst an. Ihre Augen schauen und schauen einfach nur, als wäre sie abwesend oder extrem anwesend. Ich schaue zurück, lehne mich vor, dehne ihre Oberschenkel und bete gleichzeitig im Stillen, dass der Freund zwischen meinen Beinen sich nicht unnötig viel dehnen wird. Das Gefühl ist so schön. Der Sportlehrer unterbricht uns und sagt, dass beide Beine gedehnt werden sollen. Sie wechselt das Bein, und ich lehne mich noch einmal gegen ihren Oberschenkel, schaue und schwitze. Dann ist sie dran, ich lege mich auf den Rücken, strecke die Arme aus, und Line lehnt sich gegen mein Bein. Und dann tut sie etwas völlig Unerwartetes – sie legt ihr Kinn auf meine Kniescheibe und sieht mich weiterhin so ernst an. Wieder muss der Sportlehrer uns bitten, zur nächsten Übung überzugehen.
Wir schreiben eine Chemiearbeit. Wie immer scheitere ich. Die Gedanken schnurren herum und die Tics rufen, und als die Zeit um ist, sitze ich immer noch mit weißen Seiten und wegradierten Buchstaben da. Idiot, denke ich und würde am liebsten heulen. Ich gebe die Arbeit ab und meine, den Chemielehrer seufzen zu hören, als er die
Weitere Kostenlose Bücher