Herr Tourette und ich
Wildschweins.
»Und du …«, sagt Fräulein Gemeinschaft und sieht mich an.
Ich weiß es nicht und werde es auch nie wissen, aber ich habe den starken Verdacht, dass es das Wort du ist, das mich rennen lässt. Ich sause los, die Treppen hinunter, durch den Notausgang, hinaus auf den Schulhof, durch das Tor, den Schulhügel hinunter, über die Wiese hinter dem Laden, vorbei an Gunnarssons Taxi, Richtung Post, und dann sprinte ich weiter, bis ich auf meinem Lieblingsacker auf dem Rücken lande. Da bleibe ich mehrere Minuten, Stunden und Jahre liegen. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, hierherzurennen, es zuckte einfach im Bauch und der Autopilot hat übernommen. Ich denke, dass ich gut und gerne einfach hier liegenbleiben kann, und dann kann der Bauer mit seinem Traktor kommen und mich zu Tode fahren, denn es ist doch besser zu sterben und auf die Schule, die Ansteckung, das Zucken, die Schreie und alles andere zu scheißen. Besser zu sterben, dann müssen sich Mama und Papa und meine Schwestern nicht mehr schämen, dass sie so einen hoffnungslosen Idioten zum Sohn und Bruder haben. Ich mache ihnen das Leben nur schwer, die ganze Zeit müssen sie Rücksicht auf mich nehmen, bestimmt wären sie erleichtert, wenn ich verschwinden würde. Ich kann ja doch nicht Walfänger oder Sportkommentator werden, meine Noten reichen nicht mal aus, um auf die Hochschule für hoffnungslose Idioten zu kommen. Besser sterben. Mit so einem Kopf wie meinem rumzulaufen, gezwungen zu sein, die Schuhe zu waschen, damit sie nicht das Haus verseuchen, Mohrrübengeräusche wegzukloppen und Butter und Milch und Margarine zu vermeiden, nach Norden schlafen zu müssen, den Kopf an die Wand donnern zu müssen, wenn ich aufwache und mit dem Kopf nach Süden liege. Besser sterben. Ich sehe vor mir, wie der Bauer mit seinem gigantischen Mähdrescher kommt, sein grüner John Deere mit Vierradantrieb, der alles aufsaugt, was ihm in den Weg kommt, alles wird aufgesogen, zerhackt und platt gemacht, bis die Maschine ganz hinten das Paket ausspuckt. Ich glaube nicht, dass ich sonderlich viel Schmerz empfinden werde, vielleicht hauptsächlich zu Anfang, vielleicht, wenn die ersten Schermesser des Mähdreschers den Kopf in zwei Teile teilen, das werde ich wohl merken. Aber da die Messer die Pulsadern und Nervenbahnen durchschneiden werden, verspüre ich wahrscheinlich keinen Schmerz. Bestimmt werde ich sehen können, wie meine Beine in kleine Wurststückchen unterteilt werden, aber ich werde keinen Schmerz fühlen, und es ist gut, das zu wissen, es macht mich ruhiger. Und wenn die Schulschwester mit ihrer schwarzen Tasche angerannt kommt und mich fragt, wie ich heiße, dann wird sie nur Teile meines Kopfes schief zwischen zwei Dreschmessern im Mähdrescher hängen sehen, und ich werde so antworten, dass sie mich nie vergessen werden:
»Wayne Gretzky heiße ich, und Sie?«
Und dann sterbe ich, ohne Ansteckung im Körper, rein wie ein Eisstück.
Ich bleibe auf dem Rücken liegen und betrachte das Schilfrohr um mich herum. Ich breite die Arme aus, versuche, das Flugzeug nachzuahmen, das über das Dorf fliegt. Wenn das Schilfrohr die Wolkendecke ist, dann bin ich das Flugzeug. Auf dem Weg nach Westen, über den Atlantik, nach Kanada, vielleicht Toronto. In ein paar Minuten wird das Flugzeug für mindestens sieben Stunden über dem Wasser fliegen. Sieben Stunden, ohne runterzufallen. Und wenn das Flugzeug spät am Abend in Toronto landet, dann werde ich immer noch hier auf dem Acker liegen. Die Leute werden nicht sonderlich lange nach mir suchen wollen, also werde ich in aller Ruhe hier liegen dürfen, als säße ich in der Business-Class an Bord des Flugzeugs und würde einfach nur … ausruhen. Jetzt sieht man nur Strohhalmwolken. Mehr ist nicht übrig. In wenigen Minuten wird das Flugzeug frisch und fröhlich über dem offenen Meer schweben.
Ich weiß nicht, wie lange ich da auf dem Acker liege, aber der Bauer scheint nicht aufzutauchen. Es ist still, kein Geräusch ist zu hören, nur das Rauschen des Ackers und ab und zu ein vereinzelter Vogel. Ich schlafe ein. Glaube, ich träume von einem Pinguin, der in einem Fischernetz hängen bleibt, aber ich weiß nicht recht, das kann auch eine nachträgliche Einbildung sein. Ich weiß auch nicht, wie lange ich geschlafen habe, als ich aufwache, habe ich keine Ahnung, wie spät es ist. Ich drehe mich ein wenig, rolle auf die Seite … und bin sicher, dass ich jemanden über den Acker gehen höre,
Weitere Kostenlose Bücher