Herr Tourette und ich
fliegen, die weit fliegen, die weit über den Fluss in den Hof des Bürgermeisters fliegen, der mindestens fünfmal so viele Fliegen hat wie wir, Fliegen, die sicherlich am Fenster der toten Tochter des Bürgermeisters gesessen haben, das sie mit den Fingern geöffnet hat, mit denen sie sich durch die Haare gefahren ist, die mit dem Kopf verwachsen sind, der angesteckt, krank und sterbend ist. Die Fliegen, die sich dann mit Leichtigkeit über den Fluss bewegen, zu unserem Haus, zum Ärger meiner Schwester, die versucht, sie mit der Fliegenklatsche zu töten, die von den Fliegen verseucht ist, die von der toten Tochter des Bürgermeisters verseucht wurden …
Als alle zur Schule gegangen sind, nehme ich die neuen Lachshandschuhe von Papa und breche die verseuchte Fliegenklatsche in zwei Teile, laufe zum Fluss hinunter und werfe die Fliegenklatsche und Papas Lachshandschuhe hinein. Gefahr gebannt. Schön, Erleichterung.
Der Herr Psychotherapeut und Mensch fick dich nicht
Es fällt mir immer schwerer, einzuschlafen. Der Körper kommt mit dem Kopf nicht mit, aber vielleicht ist es auch der Kopf, der keine Rücksicht auf den Körper nimmt, ich weiß es nicht. Erst wenn diese beiden Teile von mir sich einig sind, kann ich mich endlich darauf konzentrieren, einzuschlafen. Aber sie brauchen ihre Zeit, diskutieren gern unnötig herum. Also dauert es. Ich habe keine andere Wahl. Ungefähr um halb vier morgens gehen Kopf und Körper einen Kompromiss ein, und dann schlafe ich augenblicklich ein.
Ich merke auch, dass ich meinen Kopf öfter an die Wand donnern muss als noch vor wenigen Wochen. Immer sehe ich Ingrid vor mir, die Hirnhautentzündung, die Ansteckung, bin ich angesteckt, meine Eltern, meine Schwestern, tut es im Kopf ausreichend weh? Zu Hause versuche ich, das Schlagen heimlich zu betreiben. Wenn die andern fragen, was ich da treibe, was das für Laute sind, die aus meinem Zimmer dröhnen, dann mache ich sie glauben, ich habe nur die Musik zu laut an. »Das ist nicht meine Schuld, beschwer dich bei Adam Clayton, dem Bassisten von U2.« »Dreh die Musik leiser«, rufen meine Schwestern dann. Wenn ich das nicht mache und sie in mein Zimmer kommen, um die Botschaft von Angesicht zu Angesicht vorzubringen, lege ich U2 mit »Sunday Bloody Sunday« in voller Lautstärke auf, werfe mich aufs Bett und tue so, als würde ich zu der Musik rocken. Das funktioniert, sehr gut bei meinen Schwestern und überhaupt nicht bei meinen Eltern. Sie sehen etwas anderes, sie sehen das Unsichtbare, die Krankheit, die sich immer näher an die Familie heranrobbt, die sich langsam von meinem Zimmer ins Wohnzimmer der Familie schleicht und dabei ist, das ganze Haus zu besetzen. Sie versuchen mich während meiner kurzen Visiten im Wohnzimmer oder in der Küche festzuhalten, aber ich habe nie Zeit – Hausaufgaben, Training oder Sportsendung im Radio sind meine Entschuldigungen. Das funktioniert vielleicht einen Monat oder bis sie mich eines Tages physisch aufhalten. Mama macht das. Sie bitten mich, mich hinzusetzen, und ich sehe ein, dass ich keine Wahl habe. Sie reden nicht von der Schule oder von Noten. Sie reden davon, dass Papa den Tipp bekommen hat, sich an einen Psychologen in der Stadt an der Küste zu wenden. Einen Psychologen.
»Psychologe?«, rufe ich verächtlich. »Ich brauche keinen Psychotypen.«
»Er ist kein Psychotyp«, sagt Papa. »Er ist aus der Hauptstadt, ist Psychologe und kann dir vielleicht helfen, ein paar Dinge in Worte zu fassen.«
»Und wieso ist er freiwillig in dieses Loch gezogen? Da muss er ja selbst einen Psychologen brauchen.«
»Vielleicht hat er sich verliebt und …«
»Verliebt in jemanden aus der Stadt an der Küste? Da gibt es doch nur Möwen und Bazillen …«
»Wir möchten, dass du dich mit dem Psychologen triffst, und dann sehen wir weiter.«
»Aber es geht mir doch ganz gut«, lüge ich.
»Wir glauben dir nicht.«
»Glaubt, was ihr wollt.«
»Nein, wir wollen nicht glauben, was wir wollen. Wir glauben, was wir wissen. Deine Laune, deine Haut, du isst nicht richtig, du hast Beulen auf der Stirn. Liebling … nur ein Termin, okay?«
Ich sehe meine Eltern an. Wenn sie jetzt morgen sterben? Wenn das hier unser letztes Gespräch ist, und ich sage nein und mache sie traurig. Das Gespräch wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen, mir ein schlechtes Gewissen machen, mich zu einem schlechten Menschen machen, zu einem Schwein.
»Okay, ein Termin«, sage ich.
»Schön. Wir
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