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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Klassenzimmer. Ich komme jeden Montag etwas zu spät ins Klassenzimmer, um ganz bewusst die Stimmung in der Klasse zu durchbrechen. Die anderen – und das klappt immer – fragen neugierig:

    »Stimmt es, dass du am Samstag zusammen mit Line nach Hause bist?«

    Ich setze mich in die Bank, schaue zur Tafel und kommentiere trocken:

    »Also jetzt grade ist Chemie wichtiger …«

    Fünf Minuten später sitze ich mit einem weiteren Beweis dafür da, dass ich eigentlich ein hoffnungsloser Fall bin. Die Chemiearbeit zeigt rot + rot + rot, was Idiot + Idiot + Idiot bedeutet. Die anderen – und das klappt immer – vergleichen ihre Noten. Sie diskutieren und argumentieren, eifrig und neugierig, und dann fragen sie mich:

    »Und was hast du?«

    Ich sage es, wie es ist:

    »Ich habe Line. Und jetzt grade sind Mädchen wichtiger als Chemie. Oder was meint ihr?«

    Ich verlasse das Klassenzimmer unter Lachen und Applaus, wie der Flirtkönig, fühle mich aber einmal mehr als der König aller hoffnungslosen Idioten.

Die Katastrophe

    Ingrid ist die Tochter des Bürgermeisters. Sie ist lang, echt gut im Volleyball und im Skilanglauf, im Dorf beliebt. Noch vor einigen Jahren schien sie sich gar nichts aus Jungs zu machen, aber jetzt hat sie irgendwie festgestellt, dass es uns gibt. Wir haben auch festgestellt, dass es sie gibt. Sie ist das Gegenteil von Line, die beiden haben nichts gemeinsam, abgesehen von der Größe und den Haarspangen. Ingrid hat oft rote Haarspangen, die wie Messer aussehen, die von Line sind schwarz. In gewisser Weise sind die beiden Konkurrentinnen, wenn ich auch nicht weiß, worin sie konkurrieren oder wofür. Außerdem ist Ingrid ungefähr ein Jahr jünger als Line, sie geht in die Klasse unter uns.

    Ehe Line meine Erektion sehen wollte, habe ich ein paarmal ziemlich heftig mit Ingrid rumgemacht. Das war am ersten Tag des Lachsfestivals, unten am Fluss. Ich erinnere mich, dass ich meine Zunge tief in ihren Mund gesteckt habe, so tief, dass ich schon meinte, den Beigeschmack von ihrem Amalgam zu verspüren. Sie fand mich süß, aber komisch. Hinterher weinte sie und sagte, ich müsse sie nach Hause begleiten, denn sie würde sich nicht trauen, nachts allein über die Brücke zu gehen. Ich habe sie nach Hause begleitet, und da haben wir dann noch ein wenig rumgeknutscht, ehe wir uns verabschiedet haben. Das war alles.

    Ein paar Monate später wird Ingrid krank. Wir erfahren nur, es handele sich um grippeähnliche Symptome. Sie geht nicht mehr zur Schule. Eine Woche vergeht, zwei, drei. Dann muss sie ins 280 Kilometer weiter südlich gelegene Universitätskrankenhaus gebracht werden.

    Als ich ins Klassenzimmer komme, merke ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Alle sitzen schweigend da, und niemand kommentiert meine Verspätung. Der Rektor selbst steht vorn und fummelt an seiner Brille herum, daneben Fräulein Gemeinschaft, die an ihren Haaren herumfummelt, das macht sie eigentlich immer, aber heute fummelt sie doch ungewöhnlich viel. Sie schaut zu Boden, will uns nicht in die Augen sehen. Der Rektor setzt seine Lesebrille auf, obwohl er nichts vorlesen wird. Dann fängt er an zu murmeln, ein deutliches und lautes und ernstes Gemurmel:

    »Wie ihr alle wisst, ist Ingrid eine Weile krank gewesen. Vor ein paar Wochen ist sie ins Krankenhaus gekommen …« Er macht eine lange Pause, ehe er mit sehr gedämpfter Stimme fortfährt:

    »Gestern haben wir die schrecklich traurige Nachricht erhalten, dass Ingrid … dass unsere liebe Ingrid verstorben ist.«

    Ich kann mich nicht erinnern, wann es in der Schule jemals so still gewesen wäre. Niemand sagt etwas. Dann redet er weiter:

    »Heute findet kein normaler Schulunterricht statt. Ihr könnt eure Arbeit mit nach Hause nehmen. Morgen um ein Uhr werden wir in der Sporthalle eine kurze Andacht abhalten. Wir werden euren Eltern Näheres mitteilen. Bis dahin habt ihr frei, soll heißen, ihr könnt nach Hause gehen, mit euren Eltern reden, und wir sehen uns also morgen um ein Uhr.«

    Aber niemand geht. Wir bleiben sitzen. Wir schauen einander verständnislos an. Eva und Minna weinen schon, Nora wird jeden Moment anfangen, ein paar sehen aus dem Fenster, andere auf den Tisch. Ich schaue zu Line, die zur Deckenlampe starrt.

    Auf dem Heimweg stelle ich mir vor, wie sie gestorben ist – wann, in welcher Position, wie sie aussah, geschlossene Augen, offene wie im Film oder halboffene wie in den Nachrichten. Aber vor allem: Wie kann die volleyballgesunde Ingrid an

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