Herr Tourette und ich
Psychologe fragt:
»Nun, was ist es, was du erzählen willst, aber doch nicht erzählen willst?«
»Dass ich meine Stiefel in Geschirrspülmittel wasche.«
Der Psychologe lächelt, ich fahre fort:
»Damit die Stiefel nicht schmutzig werden können und einen Flugzeugabsturz über dem Dorf verursachen.«
»Über dem Dorf?«
»Und das ist die Schuld meines Gehirns.«
»Ganz und gar nicht. Gar nichts ist deine Schuld.«
»Wenn es nun überhaupt mein Gehirn ist.«
»Natürlich ist es dein Gehirn.«
»Wenn es nun mein Gehirn ist …«
»Hab keine Angst vor deiner Phantasie.«
»Ich habe keine Angst vor der Phantasie, begreifen Sie das nicht?«
»Gut. Es ist dein Recht, wütend zu werden, werde ruhig wütend, das ist vollkommen okay.«
Lange Pause. Der Psychologe macht weiter:
»Weißt du was, jetzt machen wir mal was anderes. Sieh mal … wir können Mensch ärgere dich nicht spielen, während wir weiter reden …«
Plötzlich fange ich an zu lachen. Ich weiß nicht warum, ich kann einfach nicht aufhören zu lachen. Plötzlich ist alles wahnsinnig lustig. Nicht das, was gesagt wird, sondern alles andere. Alles andere, das ich nicht benennen kann. Als wäre alles ein Witz.
»Du kannst doch wohl Mensch ärgere dich nicht spielen, oder?«, lächelt er.
»Mensch fick dich nicht?«, lächele ich.
»Ärgere«, sagt er.
»Fick«, sage ich.
»Ärgere«, sagt er.
»Fick«, sage ich.
»Sollen wir anfangen?«, fragt er.
»Ready for take-off«, bestätige ich.
Ich erzähle Mama und Papa, dass ich mich besser fühle, das Leben mir heller vorkommt, dass er mir etwas zu denken gibt, etwas anderes zu denken. Also besuche ich den Herrn Psychotherapeuten drei, vier Monate lang. Niemand in der Schule weiß davon, nicht einmal die Lehrer – der Junge hat Rückenschmerzen wegen übermäßigen Krafttrainings . Das war meine Bedingung dafür, dass ich mitmache: Niemand darf erfahren, dass ich Psychotendenzen habe. Aber die Stunden mit dem Herrn Psychotherapeuten sind sinnlos, fühlen sich hoffnungslos an, und es geht mir kein bisschen besser. An einzelnen Tagen kann es mal gut sein, aber dann falle ich immer in denselben Gedankenbrei zurück.
Ich verliere völlig den Anschluss in Mathematik und Chemie und sehe ein, dass es mit dem Ölingenieur nicht gut aussieht. Dasselbe gilt für den Walfänger und den Lokführer und den Sportkommentator. Meine Rettung sind nach wie vor Sport und Englisch. Im mündlichen Englisch darf ich herumplappern, ein Plappern, das alles von Gene Hackman bis Marlon Brando, The Stranglers und Wayne Gretzky enthält. In Englisch bestehe ich, was wiederum die Gedanken und Tics einige Zentimeter auf Abstand hält, ich merke, dass ich etwas kann, dass ich nicht vollkommen hirntot bin. Ansonsten geht das Kopfschlagen und Zwangshandeln weiter, Kopf und Gedanken sind schwer. Aber ich versuche es, versuche dafür zu sorgen, dass Mama und Papa glücklich und hoffnungsfroh werden, wenn ich jeden Donnerstag den Einser in die Stadt an der Küste nehme und meine Runden mit dem Herrn Psychotherapeuten und Mensch fick dich nicht fortsetze.
Als der Sportbericht im Radio beginnt, weine ich schon
Papa liest zufällig in der Zeitschrift Newsweek von dem amerikanischen Neurologen Oliver Sacks und seinen aufsehenerregenden Forschungsergebnissen in den USA . Sacks schreibt über ein Syndrom, das auf mich zutreffen könnte: Zwangsgedanken, unfreiwillige Geräusche, Mangel an Kontrolle über die Impulse, Konzentrationsprobleme. Erleichterung. Haben wir etwas gefunden, etwas Konkretes, das dem Jungen helfen kann, gibt es vielleicht einen Namen für alles? Tourette? Könnte es Tourette-Syndrom heißen?
Meine Eltern nehmen Kontakt zu einem renommierten Chefarzt in einer staatlichen Klinik in Trondheim auf. Sie erhalten den Bescheid, auf weitere Bescheide zu warten. Der Chefarzt ist sehr beschäftigt, eine höchst gefragte Person.
Die Tür zu meinem Zimmer ist die Lieblingstür. Sie ist aus Kiefernholz, ein recht weiches Material, verursacht aber dennoch ausreichend Schmerzen. Auch die Klotür fühlt sich gut an, aber das ist schwerer hinzubekommen, denn sie befindet sich auf derselben Etage wie Küche und Wohnzimmer. Also achte ich darauf, mir die Stirn an der Klotür nur dann zu schlagen, wenn niemand von der Familie zu Hause ist. Es passiert einige Male, dass meine Schwestern mich auf frischer Tat ertappen, aber dann tue ich so, als würde ich einen Witz machen, lächele verkrampft und
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