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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Flugzeug?«

    »Welches Flugzeug?«

    »Welche Art von Flugzeug?«

    »Einfach … Flugzeug.«

    »Aber ich muss wissen, welche Art von Flugzeug«, beharre ich.

    Lange Pause. Brezel weiter:

    »Erzähle mir bitte … wenn ich sage … Entzündung … was sagst du dann?«

    Pause. Brezel wieder:

    »Wenn ich sage Entzündung … was denkst du dann?«

    Pause. Brezel wieder:

    »Wenn ich sage Entzündung … was siehst du dann?«

    Und so machen wir ungefähr zwei Stunden lang weiter. Brezel fragt, was ich denke, fühle und sehe. Ich antworte Backpflaumen, Bauer-Schläger, Boeing 747 und Salamischweiß.

    Dann darf ich rausgehen, in der Eingangshalle warten, Bücher, Zeitungen, Broschüren lesen. Währenddessen redet Papa weiter mit Brezel, Brezel mit Papa, ich mit mir selbst. Ich schaue durch die schlossigen Fenster, sehe schlossige Bäume mit schlossigen Ästen. Eine halbe Stunde später darf ich allein mit Brezel reden. Er sitzt mindestens einen Kilometer von mir entfernt, immer noch in seinem schwarzen Lederstuhl. In zweieinhalb Stunden ist er kein einziges Mal aufgestanden, das Leder stinkt nach Hinternschweiß.

    Papa setzt sich auf das Cordsofa auf der anderen Seite der Glastür. Wir können uns sehen. Er tut so, als würde er eine Zeitung lesen, aber jedes Mal, wenn ich zu ihm schaue, schaut er gerade in meine Richtung. Brezel sagt:

    »Erzähl doch bitte … wenn ich rot sage … was siehst du dann?«

    Pause. Brezel weiter:

    »Wenn ich rot sage … was denkst du dann?«

    Pause. Brezel weiter:

    »Wenn ich rot sage … was sagst du dann?«

    Ich sehe ihn an, den Lederstuhl, wieder ihn, den ausgestopften Kaiseradler unter der Decke, und ich will gerade antworten, als das Geräusch eines Flugzeugs mich unterbricht. Ich denke:

    ... die Schuhspitze des Stiefels ist das Cockpit, der Schuhkörper ist die Kabine, die Schnürsenkel die Tragflächen, exakt gleiche Tragflächen, sonst kann das Flugzeug aufs Dorf stürzen, runterfallen, Hunderte von Menschen sterben …

    Langsam gehe ich zum Fenster, schaue hinaus, hoch zu den grauen Wolken, zum Regen. Brezel schreibt etwas auf seinen Block, sieht zu mir, dann auf den Block, zu mir, und jetzt auch zu Papa, der ins Zimmer gekommen ist. Papa kommt zu mir, legt die Hand auf meine Schulter. Ich setze mich wieder auf den Stuhl. Brezel sieht mich an, die Brille jetzt so weit auf der Nase nach vorn geschoben, dass es mich verwirrt. Das Einzige, was ich noch denken kann, ist, wann wird die Brille ihm in den Mund fallen?

    »Was passiert, wenn du die Schuhe nicht ausziehst?«, unterbricht mich Papa.

    Ich sehe zu Papa, zu Brezel, zu Papa, zum Fenster, zu den Wolken, dem Grießbreischmodder. Wieder bricht mir der Schweiß aus, es zuckt im Bauch, und ich murmele:

    »Mein Gehirn wird mir aus dem Kopf springen, wie ein Torpedo auf das Flugzeug zuschießen, das Flugzeug treffen, das Flugzeug explodiert in der Luft und …«

    Zucken im Bauch.

    Doktor Brezel gibt mir zum Abschied die Hand. Papa bleibt noch im Zimmer. Ich warte auf der anderen Seite der Glastür, die nicht geschlossen ist, weshalb ich sie belauschen kann. Nach einer Minute fängt Brezel an zu reden, seine Stimme ist gröber und schwerer. Ich kann nicht genau verstehen, was er sagt. Aber nach nur wenigen Minuten merke ich, dass auch Papas Stimme gröber wird. Ich höre einzelne Worte und Sätze. Mit jedem Wort, das Brezel ausspricht, scheint Papas Gesichtsfarbe röter und wütender zu werden, und gegen Ende des Gesprächs hat er nur noch Basstöne in der Stimme. Zwischendurch sehen sie in meine Richtung, zur Glastür, zum Flur, ich glaube nicht, dass sie mich sehen, ich weiß, dass ich sie sehe. Papa scheint wütend zu sein, Brezel blättert im Ordner, sie schauen einander kaum an. Papa holt die Newsweek heraus, zeigt ihm den Artikel, legt ihn auf Brezels Schreibtisch. Brezel liest den Artikel, tut das allerdings extrem schnell. Minuten später schüttelt Brezel Papas Hand, der erwidert, indem er sowohl die Hand als auch den Kopf schüttelt.

    Papa geht schneller denn je die Treppen hinunter. Ich schaue mir all die Raubvögel und nordischen Tiere an, die einfach unter der Decke hängen und auf uns herunterschauen. Papa hat noch kein Wort zu mir gesagt, jedenfalls keinen längeren Satz oder einen Satz mit irgendeinem Sinn.

    »Haben wir es eilig?«, frage ich.

    »Wir haben es eilig.«

    »Warum?«

    »Weil du hier wegmusst.«

Tourette? Nein, das haben wir hier nicht

    Ich wache um zehn Uhr zum Sport-Extra auf.

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