Herr Tourette und ich
mit auf der Liste der guten Zahlen.
Wir sind drei Sortierer in der Bäckerei: ein Kuhbauer von der Westküste, der Städter werden will, ein älterer Mann, der zuvor in der Sortierzentrale der Bäckerei gearbeitet hat, und ich. Ich bekomme einen ganz guten Kontakt zu dem Kuhbauern. Er möchte nach der Scheidung ein neues Leben anfangen, sucht Kontakt und ist offen und nicht so ein faschistischer Sortierfreak wie der andere Typ. Aber die Gesprächsthemen gehen uns schnell aus, und dann kommt wieder die Langeweile. Langweilig = Tics = Zucken im Bauch, Geräusch.
Ich fange an, mit den Brötchen zu spielen, verwechsele Rosenbrötchen mit Zimtschnecken, Zimtschnecken mit Rosinenbrötchen, Rosinenbrötchen mit Rosenbrötchen. Ich rieche an ihnen, probiere sie, spucke aus, esse auf, ersetze vierunddreißig Zimtschnecken durch neunundvierzig Rosinenbrötchen, mische Brötchen und Farben auf den Blechen, singe und jodle – Zucken im Bauch, Geräusch . Vielleicht drehe ich vor dem Tontechnikerzwang am Abend noch ein paar Runden, vielleicht weiß ich auch nicht, ob ich ein paar Runden drehe, aufmunternd ist das auf jeden Fall, ganz gleich, aus welchem Grund ich es tue. Das Beste an dem Brötchenjob, abgesehen vom Geld, ist die erste Stunde des Arbeitstages. Ich stempele ein, öffne die Tür, ziehe den weißen Kittel, die Handschuhe und die Mütze an – und dann genieße ich den Zimtgeruch. Der Geruch ist angenehm, schön, er beruhigt mich und lässt mich eine Stunde lang ziemlich effektiv arbeiten, ehe sich Routine und Einförmigkeit wieder aufdrängen. Die Stunde, bevor ich nach Hause gehen kann, ist am schlimmsten, da dominieren die Tics. Ich halte mir eine Zimtschnecke vor die Nase und atme den wunderbaren Geruch ein, als würde es sich um Lachgas in Zimtform handeln – Zucken im Bauch, Geräusch.
Johansen betritt den Raum. Er ist von seinen Herbstferien zurück. Mir wird gesagt, ich solle nach dem Mittag in sein Büro kommen.
Nach dem Mittag. Das Büro von Johansen.
Johansen sitzt hinter einem sehr kleinen Schreibtisch. Mitten auf dem Tisch steht eine elektrische Schreibmaschine. Leere, weiße Bögen Papier liegen sauber nebeneinander, nicht in einem Stapel, sondern nebeneinander. Ansonsten gibt es einen Stiftekasten, ein Telefon, die Fachzeitschrift Der Konditor und Plastikkörbchen für ein- und ausgehende Post. Das Eingangskörbchen ist leer, das Ausgangskörbchen prallvoll. An der Wand hängen fünf verschiedene Zeugnisse. Ich weiß nicht, was sie bezeugen, aber mindestens eines davon ist ein Diplom für treue Dienste. Johansen selbst sitzt in dem weißen Kittel da, das Haar zurückgekämmt, mit einer dicken Lesebrille auf einer extrem kleinen Nase. Die minimale Nase lässt sein Gesicht wie ein Rosinenbrötchen aussehen, nur ohne Rosinen.
»Setz dich«, sagt er in einem Ton, als hätte ich in der Verlängerung eines Weltmeisterspiels ein Eigentor geschossen.
Ich setze mich auf ein braunes Sofa mit dazugehörigem runden Tisch. Auf dem Tisch liegt ein weiteres Exemplar des Konditor . Johansen lehnt sich vor, er nimmt die Lesebrille ab, und jetzt frage ich mich, ob er überhaupt eine Nase hat.
»Also«, sagt er, als sei er auf irgendetwas stolz, »wie du wahrscheinlich gerüchteweise gehört hast, war ich in Urlaub.«
»Doch«, antworte ich. Aber wo ist deine Nase geblieben?, denke ich.
»Und Urlaub bedeutet ja, dass man sich entspannt. Sich ausruht.«
»Doch …«
»Aber jetzt genug von meinem Privatleben. Also … ich habe während des größten Teils meines berufstätigen Lebens in dieser Bäckerei gearbeitet. Ich habe ganz unten angefangen, in der Sortierung, und ich habe mich hochgearbeitet. Nach sieben Jahren durfte ich probehalber die Arbeit verrichten, die du jetzt machst … oder besser gesagt, hättest machen sollen. Es ist mir bewusst, dass die Zeiten sich ändern, aber Disziplin ist zeitlos. Also, ehe ich in den Urlaub fuhr, da habe ich das Gerücht gehört, und ich will hier keine Namen nennen, dass du angeblich vierunddreißig Zimtschnecken auf das Blech drei getan hast, und nicht sechsunddreißig, wie ich es dir sehr gründlich während der Einarbeitung, die du von mir erhalten hast, gezeigt habe. Möchtest du zu diesem Gerücht etwas bemerken?«
»Nein … da muss ich mich verzählt haben …«
»Ich glaube nicht immer einfach den Gerüchten, sondern ich vertraue auf meine eigene Intuition. Und da war etwas mit dir, was … was nicht stimmte. Also bat ich den Lagerchef, mir
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