Herr Tourette und ich
ständig den Lärmschutz auf den Ohren. Ich rede ziemlich oft mit Dieter, einem Fünfunddreißigjährigen, der vor ein paar Jahren mit Interrail durch Europa gereist ist. Im Zug zwischen Hamburg und Köln hat er eine norwegische Frau kennen gelernt, und jetzt ist er Vater eines Sohnes, und der Gabelstapler ist eine Methode, den Sohn zu versorgen, und die Mutter auch, die er im Grunde genommen überhaupt nicht mag. »Über diesen einen Fick habe ich schon ziemlich viel nachgedacht«, sagt er jeden zweiten Tag.
Er will Schauspieler werden, findet die staatliche Theaterhochschule aber zu schwul, und deshalb ist sie nichts für ihn. Stattdessen wartet er darauf, dass jemand sein Talent entdeckt. Er hat sich auch schon überlegt, wie das auf einem Marzipangabelstapler vor sich gehen soll: Er wird arbeiten, bis er genug Geld hat, um seinen eigenen Straßentheatermonolog von Dario Fo zu inszenieren, inspiriert von eigenen Erlebnissen. Die eigenen Erlebnisse könnten visuelle Anteile haben, so wie zum Beispiel die Erlebnisse auf der Zugreise zwischen Hamburg und Köln, auf der er die Mutter seines Sohnes kennen gelernt hat, also, die Mutter, die er nicht sonderlich mag. Ich sage, dass es doch nicht so viel kosten kann, einen Straßentheatermonolog zu inszenieren, und jedes Mal antwortet er: »Die Effekte, weißt du, es sind die Effekte, die kosten.« Den Marzipangabelstapler fährt er jetzt seit fünfzehn Jahren. »Nächsten Sommer«, sagt er, »nächsten Sommer wird die Premiere stattfinden. Natürlich nur, wenn es nicht regnet.«
Ich lade weiterhin Marzipan um, und ich versuche, in der Schule mitzukommen. Mit einem Finger halte ich mich noch fest, der Rest des Körpers ist drauf und dran, in die tontechnische Idiotengrube zu fallen. Aber ich hänge noch da, die Tage ziehen vorüber, und die Laune wackelt zusammen mit den Tausenden von Marzipanteigen hin und her, die jeden Tag auf mich zugerollt kommen. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, es würde nonstop piepen, auch wenn ich schlafe oder im Tonstudio sitze oder Straßenbahn fahre oder Essen einkaufe oder die Zeitung lese. An manchen Tagen piept es überhaupt nicht, vor allem an den Tagen, an denen mich die Zwänge und die Rituale beherrschen. Da vermisse ich das Piepen fast. Meine spontanen Seiten geraten immer mehr in den Würgegriff der Routine. Die Gedanken schleichen sich in den Körper und in die Arbeit ein, machen mich in der Schule immer unkonzentrierter. Das Gefühl ist wieder aufgetaucht, das inzwischen so bekannte Gefühl der Machtlosigkeit, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Alltag + Routine + Langeweile = Rituale. Die Langeweile übernimmt die Herrschaft, die eingeübten Routinen werden von den Ritualen zerstört, denen der Marzipanprozess vollkommen egal ist. Ich bin gezwungen, viel umständlicher zu arbeiten als noch vor einer Woche. Die Gewandtheit weicht einer Eckigkeit, und ich gerate ins Hintertreffen – die Marzipanteige häufen sich, die Gummitür ruft, die Gabelstaplerfahrer hupen. Ich merke schnell, dass ich ein paar Dreißigminutenpausen in der Woche auslassen muss, um die Zeit reinzuarbeiten, die für die Rituale draufgeht. Noch ein paar Tage später lasse ich die Pause ganz weg, um nicht wegen mangelnder Effektivität rausgeschmissen zu werden. Ich arbeite jetzt nonstop von sechs bis zwölf. Wenn Dieter mit dem Gabelstapler vorbeikommt und mit seinem Theatergerede anfängt, muss ich die Ohren zuklappen und die Muskeln anstrengen – je schneller ich seinen Stapler belade, desto schneller verschwindet er wieder. Dann führe ich die Zwangshandlungen und Rituale aus, die notwendig sind, mit großen Gesten und zwanghaften Bewegungen, mitten im Raum:
Ich hebe das linke Bein in einem Winkel von fünfundvierzig Grad, suche nach einem blauen Punkt an der Wand, zähle eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier = neun. Dann hebe ich den nächsten Marzipanteig an, und den nächsten. Ich zähle einmal, noch einmal, hebe das linke Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad, kleines Geräusch, Applaus.
Wenn ich ein Ritual in Rekordzeit ausgeführt habe, dann belohne ich mich damit, dass ich einen der verformten Marzipanteige auspacke. Ich nehme ein Stückchen Marzipan, rieche daran – Zucken im Bauch, Geräusch, Applaus . Schön. Der Geruch beruhigt mich, schärft die Konzentration. Rein zufällig entdecke ich, dass das Marzipan dieselbe Wirkung auf mich hat wie der Zimt. Eine entscheidende Entdeckung, denn der Geruch und der Geschmack
Weitere Kostenlose Bücher