Herr Tourette und ich
empfinde ein Unbehagen, das ich nicht richtig erklären kann. Denn etwas Vergleichbares habe ich noch nie gesehen. Die Überwachungskamera lügt nicht: Sie zeigt Bilder, wenn auch etwas verschwommen, von mir, wie ich meine Zwangshandlungen und Rituale durchführe. Wie ich das linke Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad hebe, konzentriert auf den Türrahmen schaue, eins, zwei, drei, vier, fünf zähle + eins, zwei, drei, vier, langsame, schräge Schritte zur Tür mache, zur Ladefläche des Staplers, das Paket hinüberhebe, immer vier Pakete pro Mal. Dasselbe Ritual wiederholte ich viermal. Wenn das Ritual vorbei ist, wenn ich es geschafft habe, stoße ich einen unfreiwilligen Laut aus – Zucken im Bauch, Geräusch . Die Handlung wird damit abgeschlossen, dass ich ein Marzipanpaket aufmache und das Marzipan an Nase und Mund drücke, als würde ich den Teig inhalieren. Neue Tics – Zucken im Bauch, Geräusch .
Ich zittere innerlich, als ich das sehe, ich schwitze, will weglaufen. So habe ich mich noch nie gesehen. Ich fühle mich erniedrigt und entlarvt, verspüre Wut und Ohnmacht darüber, dass die nicht verstehen, was ich da eigentlich mache. Und gleichzeitig bin ich auch über ihr Verhalten erleichtert – ich muss mich nicht erklären, muss nicht zum Verrückten abgestempelt werden, muss nicht herumeiern.
Da ist es besser, ein Interesse für den Tanz einzugestehen, als zu erklären, dass es mir, als dieses Video gedreht wurde, nicht sonderlich gut ging.
Johansen schaltet das Band ab:
»Das Marzipan, das du gegessen hast, ziehen wir dir von deinem Lohn ab. Aber du kannst heute aufhören, wenn du willst. Dein letzter Arbeitstag wird am Freitag sein. Noch Fragen?«
Der Ärger wächst, es zuckt im Bauch, die Tics kommen, kommen in Form eines raschen Murmelns hoch:
»Melonenarsch …«
»Was hast du gesagt?«, fragt Johansen.
»Ich habe gesagt … darf ich das Videoband behalten?«
Darf ich nicht. Aus Sicherheitsgründen.
Alles ist gut, das Leben ist schön
(1986) Mama und Papa schicken weiterhin Geld und Listen mit den Namen von Psychologen, mit denen ich ihrer Meinung nach Kontakt aufnehmen sollte. Sie kämpfen immer noch in meiner Sache, suchen in Zeitungen und in Büchern, sind im Gespräch mit Kojak und verschiedenen Lachsanglerkollegen, die jemanden kennen könnten, der jemanden kennt, der dem Sohn helfen kann.
Ich sage, dass ich die Psychologen auf der Liste aufsuchen werde, wenn es mir schlechter gehen sollte. Mama und Papa wollen mir sogar Geld für Essen geben, aber ich will kein Geld annehmen, ich will selbst zurechtkommen, ich lebe nach dem Selfmademan-Prinzip und sage nein zu den Zuschüssen meiner Eltern. Da werden sie wütend und versuchen, mich davon zu überzeugen, dass das ein Teil ihrer Rolle als Eltern sei.
Ich rufe ziemlich oft zu Hause an, erzähle, dass alles gut ist, das Leben ist schön und das Durcheinander im Kopf ist fast weg, und ich merke, wie ich das beinahe selbst glaube. Sie machen sich Sorgen um meinen Körper. An Weihnachten hätte ich so mager ausgesehen. Ich erkläre es damit, dass ich in der Schule und beim Radio viel arbeite. »Seht meinen Körper als ein Zeichen der Freiheit, ich tue wirklich das, wofür ich brenne«, sage ich, was ich auch selbst glaube.
Mein großer Bruder lädt mich manchmal bei sich zu Hause zum Essen ein. Ich esse gut, berichte von meinem neu gefundenen Alltag und von meinem Leben. Mein großer Bruder wird bald zum zweiten Mal Vater werden, und er scheint voll und ganz mit den Vorbereitungen beschäftigt, und so kann ich den Fragen zu meiner Gesundheit sehr leicht ausweichen. Er hat schließlich anderes im Kopf. Ich versuche, sobald das Thema auftaucht, es wegzuimprovisieren.
»Meine Gesundheit? Wie steht es denn mit deiner Gesundheit, wirst wieder Vater, du scheinst wirklich fit zu sein.«
Ben
Ben sitzt in der Schule rechts von mir. Mit Ben kann ich gut reden. Ihm scheint alles leichtzufallen – er ist schlagfertig, beliebt, sieht gut aus, kann gut reden, wagt es, die Dinge zu hinterfragen. Uns ist gemeinsam, dass wir beide recht dünn, Synthie-Typen und Radiotechniker sind. Und so haben wir gute Gespräche. Eines Abends kamen wir zufällig beide mit exakt dem gleichen Hemd zur Schule. Gelb mit schwarzen Karos, vor allem aber: alle Knöpfe zu. »Alle Knöpfe zu«, ist der Code dafür, dass man ein organischer Synthie ist. Ben und ich sind definitiv organisch und ganz klar Synthies, zwei einsame organische Synthies unter
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