Herren der Tiefe
Gewaltanwendung zu überwältigen und erst
einmal auf diese Klippe zu bringen. Anscheinend funktioniert
dieses System hervorragend – auf jeden Fall gibt es seit Jahren
keine unnötigen Verluste an Menschenleben mehr.«
»Ach?« sagte Mike übellaunig. »Und dann?«
»Später nehmen wir sie in unsere Gemeinschaft auf. Sobald
sie Zeit genug gehabt haben, sich an ihre neue Situation zu gewöhnen.«
Es war nicht Trautmans Stimme, die das sagte, sondern eine fremde, und Mike drehte sich hastig herum. Sie waren nicht
mehr allein. Hinter Trautman und den anderen waren drei der
zerlumpten Gestalten aufgetaucht. Zwei davon waren Mike
vollkommen fremd, während ihm das Gesicht des dritten be
kannt vorzukommen schien.
»Sie müssen dieser Denholm sein«, sagte er in unfreundlichem
Ton.
»Stimmt«, antwortete der Fremde. »Aber es heißt: Du mußt
Denholm sein. Wir duzen uns hier unten alle. Und du bist Mike.«
Mike verzichtete auf eine Antwort, sondern blickte
Denholm
feindselig an. Denholm war ein sehr großer, hagerer Mann, dessen Gesicht von der gleichen, fast unnatürlichen Blässe war wie
das seiner beiden Begleiter, und er war in die hier offenbar üblichen Fetzen gehüllt, die kaum mehr als Kleidung zu erkennen
waren. Sein Gesicht war scharf geschnitten und hatte einen sehr
energischen Zug, und seinen dunklen, eng beieinanderstehenden
Augen schien nicht die winzigste Kleinigkeit zu entgehen. Obwohl er sehr hager war, hatte er ungemein kräftige Hände.
Und trotz allem wirkte er nicht unsympathisch.
Denholm ließ Mike Zeit, ihn in aller Ruhe zu mustern, und fuhr
schließlich fort: »Um deine Frage vollends zu
beantworten:
Manche brauchen lange, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie nie wieder von hier weg können. Aber früher oder
später akzeptieren sie es alle, und dann gibt es in unserer Stadt
für jeden eine offene Tür. Oder auch einen Platz, um sich ein
eigenes Heim zu errichten, falls sie das wollen.«
Mike war nicht sicher, ob er wirklich verstanden hatte, was
Denholm ihm damit sagen wollte – und wenn, ob er es wirklich
verstehen wollte. Im Augenblick jedenfalls hatte er keine Lust,
näher darauf einzugehen.
»Was habt ihr mit Serena gemacht?« fragte er schroff. »Wo ist
sie?«
Trautman sah ihn erschrocken an, aber Denholm schien
ihm
seinen aggressiven Ton nicht übelzunehmen. Er lächelte. »Du
meinst die Atlanterin? Keine Angst – sie ist in Sicherheit.«
»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe«, antwortete Mike.
»Das wirst du«, erwiderte Denholm. »Deshalb bin ich hier –
unter anderem.« Aber statt diese Andeutung zu erklären, drehte er sich zu Trautman herum. »Ihr könnt uns jetzt begleiten, wenn ihr wollt. Ihr könnt euch die Stadt ansehen.«
»Gerne«, antworteten Ben und André gleichzeitig.
Chris
schwieg, wie meistens, und Trautman warf einen
fragenden
Blick in Mikes Richtung.
»Ich fürchte, dein hitzköpfiger junger Freund muß noch ein
wenig hierbleiben«, sagte Denholm lächelnd. »Wenigstens, bis
er sich ganz erholt hat – und seine Wunden einigermaßen verheilt sind.«
»Ich werde bei Euch bleiben, Herr«, sagte Singh.
»Und ich auch – wenn du es möchtest«, fügte Trautman hinzu.
Mike hätte seinen Vorschlag nur zu gerne angenommen. Schon
der Gedanke, nach allem, was er gehört hatte, allein hier zurückbleiben zu sollen, trieb ihm den Angstschweiß auf die
Stirn. Aber er spürte auch, wie gerne Trautman und die anderen
Denholms Angebot angenommen hätten, und letztendlich
wollte er auch nicht als Feigling dastehen. Also schüttelte er
den Kopf.
»Geht ruhig«, sagte er. »Denholm hat recht – ich fühle mich
noch nicht sehr wohl. Und ich bin ja auch nicht allein. Singh
wird schon auf mich aufpassen.«
Trautman warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Es wird
bestimmt nicht sehr lange dauern«, versprach er.
»Wir beeilen uns. Einverstanden?«
»Jaja«, murmelte Mike. »Schon in Ordnung. Nun geht schon,
ehe ich es mir doch noch anders überlege.«
Singh und er kehrten in die Hütte zurück, nachdem
Trautman
und die anderen in Denholms Begleitung gegangen waren. Mike
hatte nicht einmal übertrieben, wie er selbst geglaubt hatte: Er
fühlte sich tatsächlich noch sehr schwach, und seine Hände
begannen immer heftiger zu schmerzen, so daß er sich schon
nach einigen Minuten wieder auf sein unbequemes Lager sinken
ließ. Singh nahm auf einem Hocker neben ihm Platz, und
nachdem er sich umständlich und mehrmals nach seinem Befinden erkundigt hatte und danach, ob er irgend
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