Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrgottschrofen

Herrgottschrofen

Titel: Herrgottschrofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
Vom Netzwerk:
dem Auto auf der Bundesstraße daran vorbeifuhr, das Messer in der Tasche aufgehen. Dort, wo jahrhundertelang ein Hof mit Pferdekoppeln und Streuobstwiese gewesen war, war vor einigen Jahren ein Gewerbegebiet entstanden. Anstelle der im Werdenfelser Land von den Bauern nie geschätzten Rösser hatte man nun endlich auch hier einen Aldi, einen Fristo-Getränkemarkt und einen ATU-Reifenservice in die Landschaft betoniert.
    Es Verschandelung zu nennen wäre eine Untertreibung, dachte Hartinger, als er das Gelände durchlief. Dagegen waren die exzessiven Waldpartys seiner Jugend Ausflüge der Naturfreunde e. V. gewesen. Und nun sollte hier, an dieser Stelle, der Verkehrsverteiler des neuen Kramertunnels gebaut werden, um den sich die Menschen im Tal seit gewiss vierzig Jahren stritten. Dabei würde dieses Stück Landschaft gründlich umgegraben, damit die Blechlawine, die ins benachbarte Tirol zum Skifahren drängte, möglichst freie Fahrt hatte. Ein Schildbürgerstreich von ganz exquisiter Qualität, wie er ihn nicht einmal den Loisachtalern zugetraut hätte.
    Er musste kurz stehen bleiben, um einige Brummis vorbeizulassen, bevor er die Bundesstraße überqueren konnte. Als er wieder loslaufen wollte, war die Schwere in seinen Beinen zurückgekehrt. Das war nicht sein Tag, und ein knapp dreißig Jahre dauerndes Lotterleben – das, genau betrachtet, mit den Sauforgien hier an der Loisach begonnen hatte – hinterließ eben Spuren. Auch nach dem Dreivierteljahr, das er nun wieder in Garmisch-Partenkirchen verbracht hatte und während dessen er mit vorher nie gekannter Disziplin jeden zweiten Tag – nun, beinahe jeden zweiten Tag – eine Laufrunde hingelegt hatte, war aus dem Zweizentner-Prackl noch kein Marathonmann geworden. Und offenbar auch noch kein Halbmarathonmann.
    Hartinger lief über die Straße und den Waldweg hinunter zur Brücke. Dort fiel er ins Gehen zurück. Er wollte links vorbei am Herrgottschrofen, einem gut zwanzig Meter hohen Felsklotz mit senkrechter Wand, den die letzte Eiszeit hier liegen gelassen hatte. An den Wochenenden tummelten sich Familien auf der Wiese vor dem Schrofen und picknickten, und ein paar Kids nutzten die Senkrechte als Klettergarten. Aber an diesem Dienstagvormittag hielt sich hier keine Menschenseele auf.
    Hartinger blieb unterhalb des Felsens stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse, um das Gelände in allen Details in Augenschein zu nehmen. Er schob seine Laufbrille auf die Stirn und schaute in Richtung der sich über dem nahe gelegenen Grainau auftürmenden Waxensteine in die Aprilsonne. Er genoss ihre Kraft, die nach dem langen Winter endlich wieder zu spüren war. In wenigen Monaten würde sie einen kurzen Bergsommer lang herabsengen, bevor der Winter, der hier mindestens ein halbes Jahr dauerte, wieder vom Tal Besitz ergriff. Er schloss die Augen und ließ sich die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen, er atmete die Waldluft und roch die Nadelhölzer.
    Doch etwas störte Hartingers Meditation. Ein Geräusch. Ein Motorengeräusch, das eindeutig nicht von der Bundesstraße über den Fluss herübergeweht wurde. Es musste ein großer Diesel sein, der da immer wieder losbrummte, leiser wurde, auf- und abdrehte, arbeitete. Ein Bagger. Oder ein Radlader. Eine Raupe vielleicht. Hier im Wald? Hartinger wunderte sich über nichts mehr, seitdem er drüben auf der anderen Seite des Talkessels für das Tagblatt die Erdarbeiten fotografiert hatte, mit denen die Kandahar-Abfahrt für die Skirennen umgebaut worden war. Aber was gab es hier zu planieren? Im Naturschutzgebiet?
    Hartinger unterbrach seine Einkehr in sich selbst, öffnete die Augen und ging auf das Dieselbrummen zu. Er bewegte sich dabei rechts am Herrgottschrofen vorbei in Richtung Breitenau. Dort hatten die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg eine Siedlung für die Angestellten ihrer Hotels und Kasernen errichtet. Auch diese Siedlung war ein Teil von Hartingers Jugend. Bei den Amis konnte man damals Baseball spielen und auf dem Flohmarkt echt amerikanische T-Shirts und Hemden kaufen. Nach Lockerbie und erst recht nach dem elften September wurden diese Liegenschaften von der nicht-amerikanischen Öffentlichkeit abgeriegelt. Klein-Guantanamo wurden die verrammelten Ami-Einrichtungen mittlerweile genannt. Waren es die US-Boys, die da baggerten? Hartinger passierte einen weiteren Kletterfelsen, der aufgrund seiner Gestalt »Frosch« genannt wurde, und sah zweihundert Meter weiter vorn das Gelb eines großen

Weitere Kostenlose Bücher