Herrgottswinkel
dieser Geschichte hatte sie allerdings so lachen müssen, dass die Kühe erstaunte Blicke zu den beiden im Gras liegenden Gestalten herüberwarfen.
Zu mehr als Berührungen war es zwischen ihnen nie gekommen, und obwohl Anna diese als seltsam vertraut und überraschend angenehm empfunden hatte, vielleicht sogar ein bisschen darauf gewartet hatte, dass er seine Hand nicht wieder von ihrem Arm oder ihrer Schulter zurückzog, sondern fordernder und eindeutiger wurde – es kam einfach nicht dazu.
Sie war immerhin verheiratet und hatte das Gelöbnis abgelegt, ihrem Mann stets eine gute Frau zu sein. Doch war es richtig gewesen, dass sie sich all die Jahre und trotz Josephs schüchterner Avancen immer zurückgehalten hatte? War es richtig gewesen, anständig zu bleiben und das Leben einfach so an sich vorbeiziehen zu lassen? Das bisschen Leben, das sie gehabt hatte und das sich eigentlich auf einen einzigen glücklichen Sommer reduzieren ließ?
Nun saß sie wieder allein in der Hütte, Joseph würde für viele Monate in München sein, wo er mittlerweile einen Verlag hatte, der ihn voll in Anspruch nahm – und die ihr ver bleibende Zeit wurde fühlbar weniger. Sie entschloss sich, Joseph nächste Woche, wenn sie wieder im Tal war, zu schreiben, um ihm einiges zu sagen, was er eventuell ganz gerne hören würde.
Bei diesem Gedanken fiel ihr sein Geschenk wieder ein und mit zitternden Händen öffnete sie, ohne das Papier zu zerreißen, das Paket. Darin lag ein gelbes, nicht besonders dickes Buch, auf dessen Einband in dunkelroten Buchstaben geprägt war: Felsige Höhen und blumige Täler , Gedichte von Joseph Anton Steinhöbel .
Anna schlug das Buch auf und entdeckte sofort die Widmung auf dem hellgrünen Vorsatzpapier: »Für meine Berg-Anna ein Dank für die vielen schönen Sommer auf der Alpe Rangiswang, Dein Joseph.« Warum hatte sie ihm nicht schon lange ihr Herz geöffnet, jetzt blieb ihnen nur noch so wenig Zeit! Als sie langsam das schön illustrierte Bändchen durchblätterte, fand sie ungefähr in der Mitte eine gepresste Rose und blieb unvermittelt am Titel des dort abgedruckten Gedichtes hängen. Mit klopfendem Herzen las sie die folgenden Zeilen und die Buchstaben begannen vor ihren Augen zu verschwimmen:
Die Berg-Anna
Im Sonnenschein auf Rangiswanger Höh’
Geht leis und lind die Alpenfee
Anna:
Sie schaut herab auf ihres Vaters Herde
Und singt ein Lied, das frisch zum Felsen schallt;
Sie preist den Sommertag und Gottes weite Erde,
Ein Jodler kühn im Hochtal wiederhallt.
Der Vater ruft zu Heerd und Feuerung;
Es steigt herab die Hirtin jung,
Anna;
Sie geht zur Arbeit froh in ihre Hütte;
Dort sah ich sie am Herd beim Feuerschein,
Die braunen Hände flink, und rasch die Tritte,
Sie schaut zur Tür, sie hofft und jodelt fein.
Es ist der Stimme Klang, der heit’re Sinn,
Die liebe, traute Sennerin
Anna.
Vom hohen Wald der Waidmann kommt geschritten,
Zum frommen, frohen Gruß die Büchse knallt;
Es naht die Zeit, um Liebchens Hand zu bitten –
Ein Jodler frisch herab zur Hütte schallt.
Mich grüßt die Morgenblum’ auf freien Höh’n
Und ein Gedanke heimatschön –
Anna!
Doch etwas fehlt mir noch auf dieser Erde:
Gib, Liebchen, mir die Hand zum heil’gen Bund;
Sei du mein Weib am gold’nen Alpenherde! …
Was singt die Lieb’, was jauchzt im Erdenrund?
Im Goldgeschmeide hell zur grünen Höh’
Geht leis und lind die Alpenfee
Anna;
Sie singt »die Braut« im hellen Alpenliede,
Des Jünglings Freiheit, Kraft und Minnelust;
Sie singt so bräutlich schön und wird nicht müde,
Frischauf steigt eine Welt in ihrer Brust.
Nach 40 Jahren geht auf grünen Höh’n
Die Bergesmutter mild und schön,
Anna;
Sie geht dort leis und lind mit ihren Lieben
Und singt ein Lied vom Alpenblütenschnee,
Ein Herzensfrühling ist ihr noch geblieben,
Mit weißem Haupt steigt sie zur Sonnenhöh’.
In dieser stürmischen Nacht saß Anna noch lange in Decken gewickelt in der Stube und starrte ins verglühende Feuer. Dann nahm sie einen Stift zur Hand und begann mit ungeübter Hand die ersten Zeilen eines Briefes aufs Papier zu bringen – nicht ahnend, dass es ihr erster und letzter Brief an Joseph sein sollte.
JULIA
GERADE ALS TANTE ROSEL IHRE GESCHICHTE BEENDEN WOLLTE, war Jonas mit einem herausgerissenen, vergilbten Zeitungspapier in der Hand aus dem Nebenzimmer gekommen.
»Da ist es ja«, rief Tante Rosel erleichtert aus, die während ihrer Erzählung immer wieder in dem alten
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