Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
Vom Netzwerk:
seine Mutter:
    »Mag der Anton mich deshalb nicht, weil ich gar nicht sein Kind bin?« Anna sah ihre Tochter, die dem geliebten Daniel in so vielem glich, zärtlich an und erwiderte: »Nein, Johanna, das hat andere Gründe. Wenn du älter bist, werde ich sie dir einmal erklären.« Die Erklärungen, die sie ihr hätte geben können, würden das Mädchen überfordern.
    Als dann der Viehscheid kurz bevorstand, wurde Anna krank – wie so oft um diese Zeit. Sie litt unter Schlafstö rungen, Bauchkrämpfen und Übelkeit. All das konnte nur an ihrem unglücklichen Leben in Bolsterlang liegen, doch der Winter kam Jahr für Jahr ohne Erbarmen und der Abstieg von der Alpe nahte stets von Neuem. Sie musste sich einfach damit abfinden!

ACHTES KAPITEL
    Es war Herbst geworden, Annas letzte Tage auf der Alpe waren gekommen. Zweiundvierzig Sommer hatte sie hier oben verbracht. Draußen war es finster und der Regen peitschte an die kleinen Fensterscheiben. Das Feuer im Ofen knisterte und sie hatte es sich auf der Bank davor mit ein paar Decken bequem gemacht. Es war ein ungewohnter Moment absoluter Ruhe und Behaglichkeit, den sie auskostete, wusste sie doch, wie selten das Leben einem solche Geschenke machte.
    Am Vormittag, gerade als sie mit dem Käsen fertig gewesen war, hatte plötzlich Joseph vor ihr gestanden. Alt und gebeugt und mit seinem grauen Haarkranz um den Kopf, der ihn fast wie ein Mönch aussehen ließ, streckte er ihr schwer keuchend vom Aufstieg ein schmales, in buntes Papier gewickeltes Päckchen entgegen.
    »Ich wollte mich für dieses Jahr von dir verabschieden«, begann er. »Morgen geht es wieder nach München, du weißt ja, ich bin eh schon zwei Wochen zu spät dran, aber weil es mir hier in der Sommerfrische immer so gut geht, habe ich einfach zwei Wochen drangehängt. Gott sei Dank muss ich niemanden um Erlaubnis fragen.«
    Eigentlich hatte er ihr schon am Abend vorher Adieu gesagt, aber dieses Nicht-Loslassen-Können war in den letzten Jahren zu einem festen Ritual zwischen ihnen geworden. Doch diesmal schien ihm der Abschied ganz besonders schwer zu fallen, denn als er ihr die Hand drückte, waren die Tränen in seinen Augen nicht zu übersehen, und das lag nicht nur an der dicken Brille, deren Gläser alles dahinter so stark vergrößerten, dass sie ihn insgeheim manchmal als ›Frosch‹ bezeichnete. Unter anderem seiner Brille und seines Alters wegen hätte sie ihn niemals als gut aussehend oder stattlich beschrieben. Dafür war er der sanfteste und gescheiteste Mann, den sie in ihrem Leben kennengelernt hatte.
    Joseph bestand darauf, dass sie das Päckchen erst öffnete, wenn er seinen Rückweg angetreten hatte, und das hatte sie ihm versprochen. Vor vielen Jahren war er zum ersten Mal beruflich ins Allgäu gekommen und hatte sich, wie es damals Mode war, von den einfachen Leuten Märchen und Sagen erzählen lassen, diese schriftlich festgehalten und gesammelt. So hatte er Annas Heimat kennen- und auf den ersten Blick lieben gelernt. Nach diversen Stationen von Hindelang bis Weitnau und von Rohrmoos bis Waltenhofen hatte er sich schließlich für Bolsterlang entschieden, um im dortigen Gasthof seine ›Funde‹ zu bearbeiten. Diesem Ort war er treu geblieben und logierte dort nun schon seit Jahren immer mehrere Wochen im Mai, während er entweder an einer neuen Märchensammlung saß oder einen Band mit Sagen zusammenstellte, die im Spätherbst zur jährlich wiederkehrenden Buchmesse in Leipzig erscheinen sollten. Um den ›Kopf auszulüften‹, wie er es nannte, machte er oft lange Wanderungen, da man auf ihnen leicht interessante neue Menschen – und neue Geschichten für seine Bücher – entdecken konnte. Beim ›Kopf auslüften‹ hatte er auch Anna auf der Alpe kennengelernt, und bei seinen wiederholten Besuchen hatten sie sich miteinander angefreundet.
    Anna gefiel es, wenn er über die Entstehung der Berge redete, denn es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass es diese einmal nicht gegeben haben könnte. Aber sie war entsetzt, als er ihr einmal von einem Forscher namens Darwin berichtete, der herausgefunden haben wollte, dass die Menschen nicht von Gott erschaffen worden waren. Doch auch er hatte nicht schlecht gestaunt, als Anna ihm über die Pflanzen und die Zyklen des Mondes erzählte, als sie ihm erklärte, wann man einen Baum für einen Dachbalken fällen konnte, der dem Wetter trotzen würde, und in welchen Nächten die Wolpertinger auf einsamen Waldlichtungen Hochzeit feierten. Bei

Weitere Kostenlose Bücher