Herrgottswinkel
Fotoalbum geblättert hatte, als ob sie verzweifelt nach etwas suchen würde. »Ich hatte schon befürchtet, dass mir das Gedicht meiner Großmutter abhandengekommen ist«, fügte sie hinzu. Dann setzte sie sich kerzengerade und mit einem feierlichen Gesichtsausdruck auf ihrem Küchenstuhl zurecht und las das schöne Gedicht meiner Ururgroßmutter laut vor, wobei ihr Blick immer wieder aus dem Küchenfenster schweifte. Sie schien es fast auswendig zu kennen. Die beiden Buben und ich lauschten andächtig den Versen, die ein hartes, ein schweres Leben beschrieben. Es war schön und traurig zugleich. Mir liefen Tränen übers Gesicht.
»Mama, du weinst ja«, sagte Jonas erschrocken.
Tante Rosel reichte mir ein Taschentuch. »Julia, du solltest Mut und Kraft schöpfen aus dem Leben der Berganna. Immer wenn es dir schlecht geht, dann denke an sie und nimm dir ein Beispiel an ihr. Du bist ihre Nachfahrin und sicherlich hast du viel von ihrer Stärke in deinem Blut. Dir ist es nur nicht klar, deine Kraft liegt im Verborgenen, sie schlummert noch in dir.«
Mit Schrecken bemerkte ich, wie spät es geworden war, es wurde dringend Zeit für die Kinder und mich, nach Hause zurückzukehren. An der Tür steckte mir meine Tante ein blaues Kuvert in die Hand. »Immer wenn es dir schlecht geht, lies das und bewahre es gut auf, bei dir ist es sicher aufgehoben, das weiß ich.« Ich wollte das Kuvert zunächst nicht annehmen, doch Rosel bestand darauf. Sie drückte mich noch einmal herzlich, dann machte ich mich mit meinen Kindern auf den Heimweg. Während ich durch die verschneite Winterlandschaft ging, im Tragetuch meinen Lukas und auf dem Schlitten Jonas, dachte ich über die Berganna nach.
Woher hatte sie bloß die Stärke genommen, die mir fehlte? Sie war alleine gewesen, hatte nichts gehabt und hatte ihr Zuhause mit einem Kind ganz auf sich gestellt verlassen, vor über hundert Jahren, und doch hatte sie es irgendwie geschafft. Was hatte sie im Unterschied zu mir? Sicher, sie war die älteste und einzige Tochter einer kinderreichen Familie. Ihr wurde im Leben nichts geschenkt. Sie wusste schon von klein auf, was es heißt, zu arbeiten und zu überleben. Doch als die Berganna mit der neugeborenen Johanna das Haus ihrer Schwiegereltern verlassen hatte, war sie in eine völlig ungewisse Zukunft gegangen. Alles muss ihr besser erschienen sein, als sich weiter den Demütigungen der verbitterten Schwiegermutter auszusetzen.
Es fing jetzt heftiger zu schneien an, glücklicherweise würden wir bald zu Hause sein. Während ich darüber nachdachte, welche Gründe die Berganna bewogen haben mochten, diesen harten und doch geraden Weg zu gehen, wurde mir klar, dass sie durch ihren Weggang vom Hof der Schwiegereltern einen ganz wesentlichen Vorteil mir gegenüber gehabt hatte: Aufgrund der für die damaligen Verhältnisse großen Entfernung von gut drei Stunden Fußmarsch hatte sie ihrer Schwiegermutter danach nur noch einmal begegnen müssen, und zwar auf der Beerdigung des Schwiegervaters. Wie oft hin gegen traf ich Agnes oder Eberhart ohne Vorwarnung in einem Geschäft beim Einkaufen? Wenn die Kinder am Nachmittag ihren Mittagschlaf hielten, und ich es mir einmal draußen im Liegestuhl mit einem Buch bequem gemacht hatte, stand Agnes oft unvermittelt vor mir und fragte unverfroren: »Am helllichta Dag kasch du rumflacka?« Dann war es mit meiner inneren Ruhe sofort vorbei. Ich war ständiger Beobachtung ausgesetzt, immer fanden Agnes und Eberhart irgend etwas zu nörgeln. Es war unmöglich, ihren Sticheleien zu entkommen. »Wenn ich nur noch mal von vorne anfangen könnte!«, dachte ich laut vor mich hin. Doch das war undenkbar. Franz würde mich für verrückt erklären, wenn ich ihm vorschlagen würde, aus der Gegend wegzuziehen. Er hatte einen guten Job, und unser ganzer Freundeskreis war hier. Nein, ich würde Franz’ Bruder und dessen Frau nicht so ohne weiteres aus dem Weg gehen können.
Doch das allein hätte meine Probleme sicher auch nicht gelöst. Die Berganna hatte anscheinend eine große innere Stärke besessen, sicherlich hatte sie für die Dinge, die ihr im Leben wichtig waren, hart und schwer arbeiten und oft genug mit ihren Brüdern darum kämpfen müssen. Ich hingegen war ein Einzelkind und hatte nie zu kämpfen gelernt. Verglichen mit meiner Ururgroßmutter war ich eine Träumerin, auch hatten meine Eltern mich verwöhnt und mir meine materiellen Wünsche meist erfüllt, ohne lange zu überlegen. Sie hatten oft ein
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