Herrgottswinkel
gehörte zu meinen ›Abenteuern‹ – Leute kennenzulernen. Manchmal blieb ich aber auch allein, warf alle meine Ziele einfach über den Haufen und las unter einem Baum ein Buch, bis die Dämmerung oder schlechtes Wetter meinen Rückzug in einen nahe gelegenen Heustadel erzwang. Wenn ich dann am Sonntag zu Hause ankam, gab es meist ein fürchterliches Donnerwetter, und ich zog mich, so schnell ich konnte, zu einem ausgiebigen Bad in einer alten Zinkbadewanne zurück, denn ein Bad hatten wir damals noch nicht, und um acht war ich im Bett, abgekämpft, aber glücklich.
Eines Tages überlistete mich mein Vater dann, indem er mich ungefragt bei der Bergwacht zu einem Kletterkurs anmeldete. Er erzählte mir von seinen zwei Cousins, die beim Klettern in den Tod gestürzt waren, einer hatte am Gimpel seine zukünftige Frau mit ins Grab gerissen, der andere war am Rubihorn verunglückt. Beide Todesfälle hätten in seiner Familie solches Leid verursacht, dass er mich deshalb, ohne zu fragen, bei dem Kurs angemeldet habe.
So packte ich an einem Freitagabend Rebschnürchen, Karabinerhaken und meinen roten Kletterhelm in meinen Rucksack, obendrauf kam mein Schlafsack, und am nächsten Morgen fuhr mich meine Mutter bereits um acht Uhr mit Gemurre zur Talstation der Nebelhornbahn.
An der Kasse bemerkte ich eine Gruppe junger Leute, die ebenfalls Kletterrucksäcke mit Schlafsäcken dabeihatten. Unter ihnen befanden sich zwei Männer, die sich sehr ähnlich sahen und wohl Brüder sein mussten. Mir fiel sofort auf, dass sie trotz des großen Altersunterschiedes einander wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Aber so, wie sie miteinander lachten und mit den Kursteilnehmerinnen zu flirten versuchten, konnten sie unmöglich Vater und Sohn sein. Ich stellte mich etwas abseits, da ich niemanden kannte. Mit einigen Urlaubern und der Klettergruppe stieg ich in die leicht schwankende Gondel. Es versprach, ein schöner Frühlingstag zu werden, und so versammelten wir uns oben alle auf der Terrasse des Edmund Probst Hauses. Der Kursleiter schien sehr erfreut, dass wir so zahlreich waren, nur leider entpuppte ich mich als blutige Anfängerin, als er uns die wichtigsten Knoten beibringen wollte, und verwechselte links und rechts, oben und unten.
Da nahm sich der Jüngere der beiden Männer, die mir anfangs schon aufgefallen waren, meiner ungelenken Finger und meines momentan noch ›ungelenkeren‹ Verstandes an. Er war schlank, hatte dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar – und Augen, wie ich sie noch nie gesehen hatte! Sie waren von einem dermaßen durchdringenden Türkisblau, dass ich sofort an das Wasser von Gletscherseen denken musste.
Nun hatte ich die Knotentechnik sehr schnell begriffen, mein Herz klopfte jedes Mal, wenn er beim Zeigen meine Finger zart berührte, jetzt begann der Kurs richtigen Spaß zu machen! Nachmittags ging es über ein Schneefeld in den Fels, und am Abend saßen wir zusammen in der Berghütte und lauschten den Berggeschichten der einzelnen Kursteilnehmer. Dabei hatte sich der Ältere der beiden augenscheinlichen Brüder, der sich mir als Eberhart vorgestellt hatte, neben mich auf die Bank gesetzt und versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln.
Ich hatte richtig geraten. Die beiden waren tatsächlich Geschwister, und Eberhart war fünfzehn Jahre älter als sein Bruder Franz. Sie lebten in Sonthofen wie ich – allerdings ohne Eltern, die auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Seitdem, so erzählte mir Eberhart voller Stolz, würden sie zusammen im Haus ihrer Eltern leben, und er trüge die Verantwortung für seinen kleinen Bruder. Von Anfang an gefiel mir der Jüngere der beiden besser, nicht nur, weil er in meinem Alter war. Eberhart war mir zu forsch, seine Absichten standen ihm zu deutlich ins Gesicht geschrieben, und er sprach nur von sich. Franz dagegen hielt sich während des gesamten Abends eher im Hintergrund, nur ab und zu trafen sich unsere Blicke, wenn zwischen ihm und den beiden Mädchen links und rechts von ihm gerade mal eine Gesprächspause eintrat.
Beim Zubettgehen gab es dann noch einen unerfreulichen Zwischenfall. Eberhart hielt sich wohl für unwiderstehlich, vielleicht hatte er aber auch nur zu viel getrunken. Er fing mich an der Treppe vom Waschraum zu den säuberlich nach Frauen und Männern getrennten Schlaflagern ab und versuchte, mich zu küssen. Ich wehrte mich gegen seine Umarmungen und drehte den Kopf weg, aber erst die Drohung, laut zu schreien
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