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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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sein würde, und doch hatte diese Tatsache für jeden von ihnen eine andere Bedeutung.
    Johannas Wünsche waren Wirklichkeit geworden. Sie hatte sich schon als Kind nach einer richtig großen Familie gesehnt. Die hatte sie nun bekommen. Wie sich die Wünsche der Menschen in ihrer nächsten Umgebung erfüllten – und was sie dazu beitragen konnte –, das hatte nicht so sehr in ihrem Blickfeld gelegen.
    Engelbert hingegen schwor sich, seine Wünsche und Ansprüche nicht weiter hintanzustellen, jetzt, wo wieder Zeit war für gegenseitige Aufmerksamkeiten und gemeinsame Unternehmungen. Auch er wollte zu seinem Recht und Glück kommen.

FÜNFTES KAPITEL
    War ihre große Familie endlich unter dem Herrgottswinkel am Küchentisch versammelt – bei fünfzehn Personen konnte das etwas dauern –, dann wurde mit dem Essen erst begonnen, wenn Johanna das Tischgebet gesprochen hatte. Engelberts großer Silberlöffel lag auf der zweiteiligen Kredenz, doch mit seinen langen Armen konnte er ihn ohne Mühe im Sitzen vom oberen Sims ergreifen. Dieser Löffel wurde nie mit dem anderen Besteck zusammen gespült, sondern nur dadurch gereinigt, dass Engelbert ihn nach dem Essen jedes Mal gründlich ableckte, bevor er ihn wieder auf das Sims zurücklegte. Und erst nachdem er sich als Familienoberhaupt mit diesem Löffel seine Portion aus der großen Schüssel genommen hatte, durften die anderen beginnen. Lag der Silberlöffel abgeschleckt wieder auf der Kredenz, hörte die ganze Familie auf zu essen, alle legten ihre großen und kleinen Holzlöffel in die leere Schüssel und das Mahl war beendet. In hohem Alter, als Zeichen der Hofübergabe, würde er den Löffel einmal an denjenigen abgeben, der sein Nachfolger werden sollte.
    Der Erste Weltkrieg tobte nun schon über drei Jahre. Auch Bauernburschen aus der Nachbarschaft der Familie Bietsch waren eingezogen worden, und mancher hatte irgendwo weit weg sein Leben lassen müssen. Johanna hatte große Angst um ihre Söhne. Sollten sie, kaum dass sie ihr eigenes Leben be ginnen konnten, dasselbe Schicksal erleiden wie ihre gefallenen Freunde? Annas Befürchtungen hatten seit Kurzem einen konkreten Anlass: Max, ihr Ältester, war seit einigen Wochen zur Ausbildung als Soldat in einer Kaserne in Lindau. Zwanzig war er gerade und sollte sich solcher Gefahr aussetzen – Johanna war außer sich.
    »Was haben wir mit diesem Krieg zu tun«, fragte sie ihren Mann aufgebracht. »Sollen unsere Kinder für Dinge kämpfen, die sie nicht betreffen, noch je betreffen werden?«
    »Die kleinen Leute hat man doch noch nie gefragt, wenn die großen etwas haben wollten. Die waren immer nur das Kanonenfutter für die Gier der Mächtigen. Aber leider haben sie die Gesetze, den Staat und die Presse hinter sich, weil sie sie bezahlen. Wir können da nichts machen, Johanna, wer zahlt, schafft an, das weißt du doch.«
    So hatte Johanna sich gefügt, auf die Stirn ihres Sohnes beim Abschied ein Kreuzchen mit Weihwasser gemacht und auf den Beistand des Himmels gehofft. Alle hatten Max nachgeblickt, bis er hinter der Kapelle verschwunden war.
    Dann, eines Tages, erkrankte das halbe Dorf an einem Fieber, das mit heftigen Halsschmerzen einherging. Das Virus hatte auch Johannas Familie heimgesucht, und in der Küche wurde ein Krankenbett aufgestellt. Johanna war fast nur noch damit beschäftigt, essigsaure Wadenwickel zu machen und Kräutertee zu kochen. Engelbert half ihr dabei. Anfänglich war er etwas mürrisch, da er die Krankheit für ein ›Wehwehchen‹ hielt, doch dann begriff er, dass die Kinder mit einer viel schlimmeren Sache daniederlagen. Bei seinen vier Jüngsten ging es um Leben und Tod, die größeren Kinder waren Gott sei Dank schon wieder auf dem Weg der Besserung.
    Die vier Todkranken lagen in dem Bett in der Küche, zwei am Kopfende, zwei am Fußende. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Während drei der Kinder sich langsam wieder zu erholen schienen, hörte die kleine Karolina eines Abends auf zu atmen. Johanna riss das Mädchen aus dem Bett und drückte es schluchzend an sich, dann rannte sie mit dem Kind auf dem Arm zu Engelbert ins Schlafzimmer. Sie hielt ihm den kleinen Körper entgegen.
    »Tu doch was, das Linele atmet nicht mehr!«
    Weinend legte sie sich mit dem Kind zu ihrem Mann unter die Decke und hoffte, Karolina würde in der Nähe der Eltern und ihrer Wärme wieder mit dem Atmen beginnen. Aber es war vergebene Liebesmüh – vier Wochen vor ihrem sechsten Geburtstag starb die Kleine in

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