Herrgottswinkel
kleinen Max wurde vielmehr gleich von zwei Frauen Zucker in den Hintern geblasen! Das war zumindest Engelberts feste Überzeugung und einmal äußerte er sie auch lautstark.
»Man könnte meinen, Ihr hättet gar keine andere Arbeit mehr«, schimpfte er beim Betreten der Küche, als seine Schwiegermutter schon wieder mit dem kleinen Kind auf dem Arm bei ihnen am Tisch saß.
»Arbeit brauchst du mir nicht anzuschaffen, Engelbert, das merk dir. Davon habe ich in meinem Leben genug gehabt, aber Kind war mir halt nur eines vergönnt. Ist es da nicht verständlich, dass ich Max wie mein eigenes Fleisch und Blut liebe? Aber du kannst dich beruhigen, nächste Woche ziehe ich wieder auf den Berg und ihr seid mich drei Monate los.«
Engelbert entschuldigte sich, er habe es nicht so gemeint, aber die beiden Frauen schienen ohnehin nur Augen für den kleinen Wurm zu haben.
Ein Jahr und vier Monate später bekam Max seinen Spielgefährten, wie Johanna es ihm versprochen hatte. Weitere elf Monate später kam der dritte dazu.
»Max, Josef, Hermann – kannst du eigentlich nur Söhne zeugen?« Johanna klang fast vorwurfsvoll, denn als drittes Kind hatte sie sich eigentlich ein Mädchen gewünscht. Die drei kleinen Buben nahmen sie nun voll in Beschlag. Die Zeit mit Engelbert wurde weniger und weniger, aber er hatte inzwischen aufgehört, darüber zu klagen, denn sie hörte es ja doch nicht, stets war sie gerade für eines der Kinder mit etwas viel Wichtigerem beschäftigt. Auch wenn es ihm nicht passte, mit jedem Kind, das geboren wurde, verlor er seine Johanna ein Stück mehr, das war inzwischen seine feste Überzeugung.
Noch ein Jahr und vier Monate später bekam Johanna ein weiteres Kind. Diese vierte Schwangerschaft war anders als die bisherigen. Ihr Bauch war diesmal runder und nicht so spitz, und während sie früher mit dem dicken Bauch ausgesehen hatte wie das blühende Leben, hatte sie jetzt am ganzen Körper zugenommen, ihr Gesicht war aufgedunsen und sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und Flecken auf Wangen und Hals. Auch ihre Haare glänzten nicht mehr so wie früher, doch schien ihr all das nicht viel auszumachen, denn dieses Mal würde es ein Mädchen werden, schwärmte sie voller Vorfreude und Gewissheit.
Engelbert aber hatte ein ungutes Gefühl. Das dauerte alles schon viel zu lange. Über zwölf Stunden war es her, seit die Wehen eingesetzt hatten. Seit Kurzem konnte man die Schmerzensschreie im ganzen Haus hören. Die Hebamme hatte gemeint, das Kind sei sehr groß für eine so schmal gebaute Frau wie Johanna. Und heute war auch noch der Tag nach Nikolaus. Der Tag, an dem vor einunddreißig Jahren seine leib liche Mutter gestorben war! Nicht, dass er sich daran hätte erinnern können, aber seine älteren Geschwister hatten ihm alles genau erzählt. Wie ihre Mutter an der Geburt des neunten Kindes gestorben war. Wie ihr Vater hemmungslos vor ihnen geweint hatte. Wie ihn der Verlust des Kostbarsten, das er je auf dieser Welt besessen hatte, für immer verändert hatte. Konnte es sein, dass sich dieser siebte Dezember nach so vielen Jahren wiederholte, dass das Unglück nun über ihn kam, so wie es damals über seinen Vater gekommen war?
Er stürmte die Treppe nach oben und betrat das Zimmer, in dem sich Johanna und die Hebamme befanden. Es war vorbei, die Schreie hatten aufgehört, Johanna hielt ein kräftiges Mädchen an ihre Brust gedrückt, das schon so kurz nach der Geburt einen ungewöhnlich dichten schwarzen Haarflaum aufwies.
»Sie soll Anna heißen, wie meine Mutter.« Obwohl diese Geburt nicht einfach gewesen war, schien Johanna sich wie üblich in kürzester Zeit erholt zu haben.
Engelbert nickte nur erleichtert. Ihm war jetzt alles recht. Heute hatte er Todesängste um seine Frau ausgestanden. Was hätte er nur getan, wenn auch er sein Liebstes verloren hätte wie sein Vater vor ihm? Und ein furchtbarer Gedanke nahm in seinem Kopf Gestalt an, der ihn nie mehr loslassen sollte. Wegen der Kinder entglitt ihm Johanna nicht nur gefühls mäßig, das kannte er ja schon – wegen eines Kindes konnte er sie sogar ganz verlieren. Jede Geburt barg diese Gefahr von Neuem in sich, jedes Kind konnte die Katastrophe auslösen. Wie sollte er da die kleine Anna lieben, die es fast so weit gebracht hatte? Er wandte sich ab und verließ das Zimmer, doch der Gedanke fraß weiter an seiner Seele.
Als Max, Josef Anton und Hermann schon etwas älter waren, ging Johanna an einem Sonntag nach Hüttenberg, um
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