Herrgottswinkel
meiner Eltern war schwierig. Helga war unzufrieden, weil sie auf einmal nicht mehr unter Menschen kam. Den ganzen Tag alleine mit einem kleinen Kind, das immer kränkelte und sich bei jeder Gelegenheit erbrach. Sie musste alles von Hand waschen und kam mit der Arbeit kaum mehr nach. Mein Vater hatte auf diese Jammerei keine Lust und so kam er bald nach der Arbeit nicht mehr gleich nach Hause, sondern kehrte in seiner Stammkneipe ein und spielte mit seinen Wirtschaftshockern Karten. Meist wurde es sehr spät, bis er mit seinem Moped endlich nach Hause fand.
Ich bekam ihn oft die ganze Woche nicht zu Gesicht. Wenn ich manchmal nachts wach wurde, weil meine Eltern wieder einmal heftig miteinander stritten, dann schlüpfte ich aus meinem warmen Bett und drückte mein Ohr an die kalte Schlafzimmerwand, die an die Küche angrenzte. Verstehen konnte ich meistens nur Bruchstücke der Auseinandersetzung, wie ›Trennung‹, ›Wirtschaftshocker‹ und ›andere Wohnung‹. Ich hatte furchtbare Angst, dass meine Eltern auseinandergehen könnten. Was sollte dann aus mir werden?
Wenn meine kleinen Füße so kalt wie Eiszapfen waren, bin ich durch den langen, kalten Gang gehuscht und in die Küche gelaufen und schnell bei meinem Papa, der nach Metall, Zigaretten und Wirtschaft roch, auf den Schoß gekrochen. Meistens hatte er einen Stoppelbart und trug ein verschwitztes kariertes Hemd und eine schwarze Bundhose mit grauen Bundhosenstrümpfen, die im Laufe des langen Tages schon bis an die Knöchel heruntergerutscht waren. Ich schmiegte mich fest an seinen dicken Bierbauch. Er hielt mich mit seinen schrundigen, schwarzen Händen fest und massierte meine kalten Füße. Meine Mutter stöhnte dann und schimpfte mich, dass sie nicht einmal am Abend Ruhe vor mir hätte. Geschwind machte sie eine Bettflasche für meine Füße, um mich schnell wieder loszuwerden.
So war der Streit meiner Eltern nur für kurze Zeit unterbrochen. Beide zündeten sich von Neuem hastig eine Zigarette an, und der heftige Wortwechsel ging weiter. Die Teller vom Abendessen standen meist noch auf dem Tisch, und mein Vater hatte wieder einmal so gut wie nichts gegessen. Das Essen war ihm ja im wahrsten Sinne des Wortes vergangen, denn sein Bauch war mit Bier gefüllt.
Immer bekam er von meiner Mutter wegen der einfachen Wohnverhältnisse Vorhaltungen. »Kein Bad, keine richtige Wohnung, wie die Grattler«, sagte sie zu ihm.
»Du kannst ja gehen«, erwiderte mein Vater meist zum Schluss einer Auseinandersetzung. »Ich jedenfalls bin hier geboren und hier will ich auch sterben.«
Meine Mutter drückte mir die Bettflasche in die Hand und forderte mich auf, mich wieder hinzulegen. Ich sagte ihr dann, während ich meine Hände fest um den Hals meines geliebten Papas schlang, dass ich hier in Westerhofen bleiben wolle und keine Lust hätte, nach Blaichach in ein Hochhaus zu ziehen oder in Sonthofen in der Stadt zu wohnen. Dann trug mich mein Papa schwankend ins Schlafzimmer und legte mich vorsichtig ins Ehebett. Er zog sich sein Hemd, seine Bundhose und seine Strümpfe aus, und wir kuschelten uns ganz eng aneinander. Einige Minuten später schnarchte er tief und fest neben mir, und auch ich schlief nach kurzer Zeit neben ihm ein.
Wenn ich am Morgen wach wurde, war es meistens schon ganz hell im Schlafzimmer. Meine Mutter saß dann mit ihrem hochtoupierten Haar wie gewöhnlich in der Küche an ihrer Kettelmaschine, an der sie in Heimarbeit den ganzen Tag und bis spät in die Nacht die Vorderseite von Strümpfen zusammennähte. In der Küche roch es immer etwas eigenartig nach Zigarettenrauch, dem Perlonstoff der Strümpfe und dem Maschinenöl in der warmen Kettelmaschine. An der rechten Wand der Küche, die nur durch eine dünne Pressspanwand und einen Vorhang vom Wohnzimmer abgetrennt war, reihten sich die Einbaumöbel mit der weißen, glänzenden Kunststofffront aneinander, daneben ein weißer Elektroherd mit Backröhre und in der Ecke schließlich ein Ölofen mit silberfarbig gestrichenem Ofenrohr. An der bunt tapezierten Wand aus Pressholz standen ein Tisch mit einer Kunststofftischdecke mit Blumenmuster und drei Stühle, die mit rot und schwarz gemustertem, abwaschbarem Kunststoff bezogen waren. Bis auf das künstliche Licht an der großen, mit Öl farbe dunkelgrün gestrichenen Maschine war es dunkel in dem Raum, denn meine Mutter zog um diese Uhrzeit die Vorhänge zu, da die Sonne sie sonst bei ihrer Arbeit geblendet hätte. Links neben der Maschine
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