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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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hochgekommen waren, zusammensaßen und schwätzten und lachten, als sei seit den Zeiten der Berganna nicht ein Jahr vergangen.
    Aber natürlich hatte sich seit damals auch auf der Alp viel geändert. Ich erinnere mich noch gut, dass nach jedem Winter, in dem die Alpe Gschwend inzwischen an reiche Wintergäste aus Kempten vermietet wurde, zu meiner großen Freude ein hoher Stapel Modezeitschriften auf mich wartete. In diesen Zeitschriften erfuhr ich etwas über die große weite Welt, und geradezu gierig verschlang ich einen Alpsommer lang eine Artikelserie über die ›wilde Affäre‹ zwischen Richard Burton und Liz Taylor. Geschichten, die mir ebenso spannend erschienen wie jene, die mir Tante Lina aus ihrem Leben erzählte.
    Linas Leben war gezeichnet von Arbeit und Entbehrung. Doch niemals habe ich sie schlecht gelaunt erlebt. Einmal, als wir am Abend noch in der Küche saßen und Milch mit Honig tranken, sagte sie zu mir, wenn sie mich sehe, müsse sie oft an ihren Mann Max denken.
    »Einen Tag, nachdem du geboren wurdest, ist Max gestorben! So ist das Leben, ein Kommen und Gehen!«
    Nach diesen Worten fühlte ich mich durch meinen Geburtstag fast ein wenig schuldig an seinem Tod.
    Lina war eine kleine, zierliche Frau mit einem Buckel. Ihre Haut war hell und ihre Wangen leicht gerötet. Sie hatte wasserblaue, gütige Augen, und ich liebte sie sehr. Meine Oma Anna und sie mochten sich von Anfang an gut leiden, erzählte sie mir einmal.
    »Ich hatte es sehr schwer, als ich auf den Hof kam. Ich war jung und mit dem ältesten Sohn Max verheiratet, der später einmal den Hof bekommen sollte. Doch mein Schwiegervater war ein starrköpfiger, harter Mann. Max war das älteste von dreizehn Kindern und von seinem Vater nie als Nachfolger anerkannt. Wir wohnten im Nebenhaus in zwei kleinen Zimmern und arbeiteten viel. Ich ging mit den Männern am Morgen um vier Uhr früh schon zum Mähen mit der Sense, damals gab es noch keine Maschinen. Auch im Winter half ich bei den schweren Holzarbeiten im Wald und hackte oft alleine das ganze Holz. Nie bekam ich dafür einmal Dank vom Vater von Max. Deine Großmutter Anna hat mir einmal erzählt, dass es ihr sogar als Tochter mit dem alten Engelbert ähnlich ging. Und ich war ja bloß die Schwiegertochter.«
    Irgendwann in diesen Kindertagen, als sie so erzählte, beschloss ich für mich in meinem Herzen, dass sie auch meine Oma sein sollte. Zu meiner anderen Oma, die in Niederbayern noch lebte und die ich nur an Ostern für einige Tage im Jahr sah, hatte ich keine Beziehung, sie war für mich wie eine Fremde. Auf der Alpe sprach ich Lina mit Oma an, und unten im Tal war sie dann wieder meine Tante Lina. Wie habe ich Nanne und Hubi oft um ihre Oma beneidet!

WÄHREND ICH NOCH IN GEDANKEN VERSUNKEN AM TISCH saß, hatte Rosel Kundschaft in ihrem Lädchen gehört und ging hinüber. Ich begann, den Tisch abzuräumen und für uns vier das Nachtlager herzurichten. Rosel hatte angeboten, dass wir während unseres Aufenthaltes ihr Zimmer benutzen konnten und sie selbst hier in der Küche neben dem Laden bleiben würde, also holte ich aus der Abstellkammer ein zusätzliches Klappbett für Susanne, das normalerweise als Zusatzbett für Hausgäste diente, und ich selbst würde mit den beiden Jungs im alten Ehebett von Tante Rosel nächtigen.
    Währenddessen spielten die Kinder vor dem Haus und ich hatte Zeit, weiter über die Geschichte von Johanna nachzudenken. Wie ich war auch Johanna ein Einzelkind gewesen und sie hatte daraus den Schluss gezogen, so viele Kinder wie möglich in die Welt zu setzen, um so ihrer inneren Einsamkeit zu entkommen. Ich konnte zwar nicht behaupten, dass meine Kindheit durch ein solches Gefühl der Einsamkeit geprägt war, ich hatte Hubi und Nanne, meine Eltern, Tante Lina und Tante Rosel – und durch das Leben auf dem Bauernhof tagtäglich Unterhaltung, Spaß und Abenteuer. Trotzdem, wenn ich mir meine Kindheit genauer betrachtete, war da auch, seit ich denken konnte, unterschwellig eine Angst vorhanden, dies alles zu verlieren, allein zu sein, keine Familie mehr zu haben. Diese Angst vor Einsamkeit teilte ich mit Johanna.
    »Komm, Julia, ich sehe, du musst dir dringend den Kopf ›auslüften‹. Pack deine Kinder ein, wir machen einen Ausflug zu unserer alten Lieblingsbank.« Tante Rosel kam ins Zimmer und versuchte, mich auf andere Gedanken zu bringen.
    Also rüstete ich meine Familie und mich für den bevorstehenden Spaziergang mit der richtigen Kleidung und

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