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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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dampfte eine große Tasse mit Kaffee, und im Mundwinkel meiner Mutter hing meist eine Zigarette.
    Manchmal setzte ich mich neben sie auf den Küchentisch, wenn Hubi und Nanne keine Zeit für mich hatten. Dann erzählte sie mir Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend. Schon mit vier ist sie Halbwaise geworden, da ihr Vater im Krieg fiel. Der neue Freund ihrer Mutter hat sie geschlagen und aus dem Haus geworfen, ohne dass diese eingeschritten wäre, und so ist sie mit siebzehn ganz allein ins Allgäu gekommen und hat zuerst in einem Hotel gearbeitet, das ihr sogar noch Miete für ihr Zimmer von dem kargen Lohn abzog, bis sie eine Stelle als Bedienung fand, die auch schlecht bezahlt war, aber immerhin gutes Trinkgeld einbrachte. Dort hat sie dann meinen Vater kennengelernt und ist mit ihm wohl zum ersten Mal in ihrem Leben ihrer grenzenlosen Einsamkeit etwas entkommen. Armut, Entbehrungen, Alleinsein – alle ihre Geschichten drehten sich um diese Themen. An manchen Tagen schlich ich leise von meinem Platz auf dem Küchentisch zu ihr hin und legte meinen Kopf in ihren Schoß. Dabei umarmte ich sie, um ihre Trauer etwas zu lindern, und wir weinten zusammen, bis die Maschine erneut zu rattern anfing. »Jetzt muss ich aber wieder ein bisschen Geld für uns verdienen«, sagte sie traurig zu mir.
    Wenn es draußen regnete, spielte ich oft auf dem Dachboden. Mein Papa hatte mir da oben eine Schaukel aufgehängt. An der einen Seite hingen auf langen Stangen große Kuhglocken mit bunten Fransen, auf der anderen hängte meine Mutter ihre Wäsche zum Trocknen auf. Mich interessierten vor allem die Schränke, die prall gefüllt waren mit alten Kleidern, Hosen und Schuhen. Nanne und ich verkleideten uns manchmal, dann stolzierten wir in den ›Geggelarschuhen‹, den Stöckelschuhen, umher. Es machte uns jedes Mal großen Spaß, da wir immer wieder neue Sachen entdeckten.
    Einmal zog ich aus einer Schublade ein großes Bild in einem dunklen Rahmen heraus. Das Glas hatte einen Sprung und war total eingestaubt. Ich wischte es mit dem Ärmel von einem alten Kostüm ab. Da sah ich einen großen Mann mit einem langen Gehrock, der einen schwarzen Zylinder in seiner linken Hand hielt. Neben ihm stand eine schöne Frau mit einem langen, schwarzen Kleid und einem weißen Kränzchen auf dem Kopf. Sie hatte sich am Arm ihres Mannes eingehängt. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich das Foto staunend betrachtet habe, doch ich wollte wissen, wer diese beiden Menschen auf dem Bild waren. Schnell lief ich die Treppe hinunter und fragte meine Mutter, die unermüdlich an der Kettelmaschine saß, wer das sei.
    »Lass doch das staubige Bild da oben. Das sind Lina und Max! Bring das Bild sofort wieder hinauf und leg es dorthin, wo du es hergenommen hast, hörst du, Julia!«
    Viele Jahre später erfuhr ich von meiner Tante Erika, dass diese beiden Menschen auf dem alten Foto meine Urgroß eltern Engelbert und Johanna Bietsch waren, bei ihrer Hochzeit im Mai 1897, nicht Max und Lina. Ungefähr siebzig Jahre später hatte ich das Bild zufällig beim Spielen entdeckt. Und nicht einmal meine Mutter hatte gewusst, wer die abgelichteten Personen waren.
    Eines Tages stopfte meine Tante alles, was sich auf dem Dachboden befand, achtlos in Müllsäcke. Dann wurde es zum Schuttabladeplatz gefahren und verbrannt. Von nun an war nichts mehr zum Verkleiden und Entdecken da, und der Dachboden wurde für uns Kinder uninteressant.
    Im Sommer bin ich gerne mit dem Traktor mitgefahren und durfte beim Heuen mitmachen, wenn ich auch mehr im Weg gestanden bin, als dass ich eine Hilfe war. Zumindest durfte ich dabei sein. Wenn ich morgens die Augen aufgemacht habe, bin ich in meine Sachen geschlüpft und, so schnell ich konnte, zu Nanne und Hubi hinunter. Ich durfte dann gleich die Kühe aufs Feld austreiben helfen und später auf dem neuen, grünen Traktor sitzen und mitfahren. Der alte, rote war jetzt uninteressant geworden.
    Der erste Schnitt im Frühjahr kam inzwischen in einen Silo, der, je nach Witterung, ganz erbärmlich stank. Die neue Zeit war mit der vielen Technik auch in Westerhofen eingekehrt. So wurde es in einem Sommer auf einmal sehr, sehr laut im Dorf. Jede Landwirtschaft hatte Heulüfter bekommen, damit sollte das frisch eingelagerte Heu besser belüftet und einem Heustockbrand vorgebeugt werden. Die zugezogenen Bewohner beschwerten sich bei den Bauern über die Lärmbelästigung, und auch den Kurgästen gefiel das Geräusch gar nicht. Mir hat es Spaß

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