Herrgottswinkel
oben zur Hand ging. »Morgen kommt die Mutter, wie abgemacht. Sie wird Euch schon sagen, was mit Anna los ist.« Ver legen senkte Albert den Blick, doch er schaffte es nicht, sich so einfach aus der Affäre zu ziehen.
»Nein, so geht das nicht, ihr wisst wieder einmal mehr als ich. Aber ihr braucht nicht zu meinen, dass ihr ewig etwas vor mir verheimlichen könnt. Ich spüre es, wenn da unten bei euch etwas nicht in Ordnung ist. Also, heraus mit der Sprache und zwar auf der Stelle«, schrie er seinen Sohn an. Normalerweise wurde er nie laut mit seinen Kindern und mit seinem Lieblingssohn Albert, der ihm nicht nur äußerlich aufs Haar glich, schon gar nicht.
Völlig verdutzt zog der Junge den Kopf ein, als er erstmals seinen Vater so zornig erlebte, dann rang er sich kleinlaut zu einer Antwort durch. »Anna ist schwanger, und der Zöllner kann sie nicht heiraten, weil er schon verheiratet ist.«
»Ist das wahr?« Wutentbrannt sprang Engelbert von der Küchenbank auf und riss diese dabei mit sich. Er war so außer sich, dass er es drinnen nicht mehr aushielt, mit geballten Fäusten stürmte er vor die Hütte.
Albert war froh, dass sein Vater endlich Bescheid wusste, daheim gab es schon seit Wochen kein anderes Gesprächsthema mehr. Alles drehte sich nur noch darum, wie man dem Vater die Nachricht möglichst schonend beibringen konnte. Nun war es also heraus. Zögernd ging Albert zu seinem Vater ins Freie, um ihn wieder etwas zu beruhigen.
»Ich habe gewartet, bis mir eine Frau von ganzem Herzen gefallen hat – und selbst dann habe ich sie erst an gerührt, als wir verheiratet waren. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, Schande über deine Mutter und ihre Familie zu bringen, denn es wäre ja auch meine Schande gewesen. Und deine Mutter hat genauso gedacht und gehandelt, sie wusste, was es heißt, keinen richtigen Vater zu haben. Und ich wusste, was es bedeutet, keine richtige Mutter zu haben. Aber Anna ist und bleibt ein Unglückskind. Mir war schon immer klar, dass ich ihretwegen noch viel Ärger in meinem Leben bekommen würde. Geboren am Todestag meiner Mutter, damit fing es an …« Abrupt verstummte er, sein Gesicht versteinerte sich und es war kein weiteres Wort aus ihm herauszubringen. Schnellen Schrittes verschwand er im Stall.
Als Engelbert Mitte September mit seinen Kühen von der Alpe ins Tal gezogen war und wieder bei seiner Familie wohnte, wechselte er kein einziges Wort mit seiner Tochter. Aber Anna verließ auch kaum ihr Zimmer, da sie Angst hatte, ihm zu begegnen. Sie ging ihm aus dem Weg und sie fühlte sich momentan ohnehin besser, wenn sie mit sich alleine war. In den ersten Monaten der Schwangerschaft hatte sie fast ununterbrochen geweint, sie konnte kaum etwas essen und wenn sie ihrem Ungeborenen zuliebe doch eine Kleinigkeit hinuntergewürgt hatte, wurde ihr nur schlecht und sie musste sich übergeben. Man konnte ihr fast beim Abmagern zusehen, und doch brachte sie immer von Neuem die Kraft auf, Franz einen Brief zu schreiben, in dem sie ihn bat, sich zu trennen und zu ihr zu kommen, denn er liebe sie doch, wie er tausendmal beteuert hatte. Die Briefe adressierte sie an das hiesige Zollamt, doch sie kamen ausnahmslos ungeöffnet und mit dem Vermerk ›Annahme verweigert‹ an sie zurück.
Anna verließ immer seltener ihr Zimmer, saß Tag und Nacht an ihrer Nähmaschine. Die Mutter versorgte sie heimlich mit Essen und Milch und besuchte sie, wann immer es ging. Das war selten genug der Fall, eigentlich nur, wenn Engelbert aus dem Haus war und die Kinder sich ebenfalls gerade anderweitig beschäftigten. Alles musste heimlich geschehen, niemand durfte etwas davon mitbekommen. Schließlich hätte es jemand dem Vater verraten können.
Johanna hielt ihr Versprechen, sie stand zu Anna, wann und wie immer es ging. Sie litt mit ihrer Tochter – um das zu bemerken, brauchte man nur in ihr verzweifeltes, abgehärmtes Gesicht zu blicken. Aber auch Johannas Fürsorge und ihr Mitleiden halfen Anna nur wenig in ihrer seelischen Not. Gegen Ende der Schwangerschaft rebellierte ihr Körper plötzlich ein weiteres Mal und statt wie zuvor appetitlos vor sich hin zu dämmern, wurde sie nun von regelrechten Fressattacken heimgesucht. Doch das Ergebnis war letztendlich dasselbe – sie behielt nichts bei sich.
Aber das war ihr nun auch egal, so egal wie ihr Aussehen, so egal wie ihre Familie, so egal wie ihre Zukunft. Nur das Kind war jetzt wichtig, das sollte gesund und kräftig zur Welt kommen. Und im
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