Herrgottswinkel
Gegensatz zu ihr selbst schien es tatsächlich prächtig zu gedeihen, so, wie es manchmal nachts mit seinen Beinen gegen ihren Bauch stieß. Es waren diese ruckartigen, ohne eine Vorwarnung sich ereignenden Bewegungen unter ihrem Herzen, die ihr wieder Hoffnung einhauchten. Hoffnung, weil da neues Leben in ihr entstand. Hoffnung, weil sie es war, die dieses neue Leben hervorbrachte. Und Hoffnung schließlich, weil zum ersten Mal etwas ganz ihr gehören würde, eine Erfahrung, die ihr das Schicksal bisher verweigert hatte – bei ihrem Vater, bei ihren Geschwistern und schließlich bei Franz. Der Ausspruch ihrer Großmutter, man müsse für seine Träume kämpfen, kam ihr in ihrer jetzigen Situation völlig abwegig vor. Wenn die anderen einen nicht wollten, war jeder Kampf aussichtslos, schon bevor er begonnen wurde! Sie war unter einem falschen Stern geboren, daran war nichts zu ändern.
Erst einmal musste nun dieses neue Leben zur Welt gebracht werden, und Anna war nicht nur froh, dass es bis zur Geburt nicht mehr lange dauern würde, sondern auch, dass sie ihr Kind zu Hause bekommen konnte, weil sich ihre Mutter in diesem Punkt gegen den Vater durchgesetzt hatte. Das war durchaus nicht selbstverständlich, die meisten un ehe lichen Kinder wurden schon bei der Geburt versteckt, ihre Mütter mussten das Dorf verlassen, um irgendwo in der Fremde in einem Krankenhaus niederzukommen. Anna aber würde das große Ereignis in ihrem eigenen Bett und umsorgt von ihrer Mutter erleben, das gab ihr Zuversicht, selbst in ihren schlimmsten Stunden, denn es wurde eine sehr, sehr schwere Geburt. Sie dauerte ganze drei Tage.
»Sie hätte sich mehr bewegen müssen«, meinte die Hebamme. »Weder für die Mutter noch für das Kind ist es gut, wenn während der Schwangerschaft die Bewegung fehlt.«
»Ich hatte andere Sorgen als das«, erwiderte Anna und stöhnte während einer starken Wehe vor Schmerz auf, da sie wieder einmal nicht pressen durfte, weil sich der Muttermund noch immer kaum geöffnet hatte.
Johanna war Tag und Nacht damit beschäftigt, warmes Wasser und frische Wäsche bereitzuhalten. »Wenn es doch nur endlich richtig losgehen würde«, jammerte sie. »Solche Qualen kann sich doch keiner lange ansehen!«
In Abständen hallten inzwischen Annas Schreie durchs ganze Haus, niemand in der Familie kam mehr zur Ruhe. Die Geschwister hatten sich in der Stube versammelt und beteten im Herrgottswinkel für ihre Schwester, so schlimm stand es um sie und das Kind. Es war nicht abzuleugnen – Anna stand mit mehr als nur einem Fuß im Grab. Der Vater hatte verboten, einen Arzt zu holen, man hätte fast den Eindruck bekommen können, dass er über den Tod seiner Tochter gar nicht so unglücklich gewesen wäre. Dadurch wären aus seiner Sicht zumindest seine und die Ehre der Familie wiederhergestellt gewesen. In seinem verletzten Stolz offenbarte er einen Wesenszug, der weit über seine übliche Härte hinausging und nur als menschenverachtend bezeichnet werden konnte. Anna hätte es vorgezogen, wenn sie zumindest während dieser für sie äußerst schmerzhaften Stunden von seiner Gegenwart unter demselben Dach befreit worden wäre.
Nachts blieb Johanna bei ihr, trocknete ab und zu ihre schweißnasse Stirn und hielt ihr zur Beruhigung die Hand. Bei Tag löffelte sie ihrer Tochter Hühnersuppe in den Mund und flößte ihr Alpkräutertee ein. Anna hatte inzwischen jeglichen Lebensmut verloren, sie war überzeugt, diese Geburt nicht zu überleben. Doch ihr eigenes Leben spielte sowieso keine Rolle, es hatte nie eine Rolle gespielt. Viel schlimmer war, und darüber zermarterte sie sich den Kopf, welche Schande sie über ihre Familie gebracht hatte. Den Kampf um die Gunst ihres Vaters hatte sie jetzt endgültig verloren. Selbst wenn sie überlebte, sie würde es nie mehr schaffen, Anerkennung oder gar Nähe von ihm zu erfahren. Dieser Traum war ein für alle Mal ausgeträumt – und die Schuld dafür suchte sie nur bei sich und ihrer Gutgläubigkeit. Sie hatte es verdient, dass sie so leiden musste, sollte er nur kommen, der Schmerz, immer wieder kommen, bis sie ausreichend Buße getan hatte für ihre Verfehlungen. Immer tiefer steigerte sie sich in diesen Wahn hinein, ließ sich von den Wellen der Krämpfe in ihrem Unterleib treiben, bis sie trotz aller Qualen nicht einmal mehr schrie und jegliches Zeitgefühl verloren hatte.
Nach über fünfundsechzig Stunden neigte sich die Geburt endlich einem Ende zu, und als Anna bei einer
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