Herrin der Dunkelheit
wieder musste er die Zähne zusammenbeißen, in vorsichtigem Schrittempo gehen und sich Zeit lassen. Die Gegend wirkte so ruhig und sicher wie Beaver Street, doch bei dem durch den Nebel verursachten, plötzlichen Temperaturabfall waren nur wenige Menschen unterwegs, und Franz steckte sein Fernglas wieder in die Tasche.
Er erwischte einen N-Judah-Wagen an der Haltestelle am Ende des Tunnels unter dem Buena Vista Park (San Franciscos Hügel waren von Tunnels durchlöchert wie Schweizer Käse, dachte er) und fuhr bis zum Market Civic Center. Als beim Umsteigen in einen 19-Polk eine erdbraune Gestalt hinter ihn trat, fuhr er zusammen, doch es war nur ein Arbeiter, dessen Overall mit dem Staub einer Abrißarbeit bedeckt war.
Er verließ den 19-Polk in Geary. In der Eingangshalle des Hauses 811 Geary war nur Fernando, der gerade den Staubsauger über den Auslegeteppich schob. Das Gerät machte ein Geräusch, das genauso grau und hohl war wie der Tag draußen. Er hätte gerne ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber der kleine, untersetzte Mann mit dem ernsten Gesicht eines peruanischen Idols kannte nur wenige Worte Englisch und war außerdem fast taub. Sie verbeugten sich feierlich voreinander, sagten ›Senyor Lukay‹ und ›Mistair Juestón‹ (Fernandos Fassung von ›Westen‹) zueinander, und damit hatte es sich.
Franz fuhr mit dem quietschenden Lift in den sechsten Stock. Er spürte den Impuls, zunächst Cal aufzusuchen oder die beiden Jungen, aber es war eine Sache von – sagen wir Stolz und Mut – es nicht zu tun. Der Korridor war dunkel (eine Deckenlampe war ausgebrannt), und das Luftschacht-Fenster und die drückerlose Tür der Besenkammer neben dem Eingang zu seinem Apartment wirkten noch dunkler als sonst. Als er auf die Tür seines Apartments zutrat, spürte er, dass sein Herz rascher schlug. Er kam sich albern vor und spürte gleichzeitig eine erwartungsvolle Spannung, als er den Schlüssel ins Schloss steckte und mit der anderen Hand den Feldstecher umklammerte, als eine Art provisorische Waffe. Er stieß die Tür mit einem Ruck auf und schaltete sofort das Deckenlicht ein.
Die 200-Watt-Beleuchtung zeigte ihm, dass der Raum leer war und keinerlei Anzeichen dafür vorhanden waren, dass sich jemand hier aufgehalten hatte. Von der rechten Hälfte seines Bettes (die andere Seite war noch immer zerwühlt) schien ihm sein ›Studentenliebchen‹ fröhlich zuzuzwinkern. Trotzdem fühlte er sich erst wirklich sicher, nachdem er einen Blick ins Bad geworfen und den Kleiderschrank kontrolliert hatte.
Er schaltete das Deckenlicht wieder aus und trat zum Fenster. Die grünen Vorhänge hatten eine Rückseite aus sonnengebleichtem Braun, wie er es in Erinnerung hatte, aber wenn sie durch eine plötzliche Bö aus dem Fenster geweht worden sein sollten, so musste eine zweite Bö sie wieder an ihre richtige Stelle zurückgeweht haben.
Der ausgezackte Grat der Corona Heights schimmerte vage durch den heraufziehenden Nebel. Der Fernsehturm war jetzt völlig von den Schwaden eingehüllt. Er senkte den Blick und sah, dass das Fensterbrett und sein schmaler Schreibtisch, der neben dem Fenster stand, und der Teppich, auf dem er stand, mit kleinen, braunen Papierschnipseln bedeckt waren, die ihn an Guns Akten-Vernichtungsmaschine erinnerten. Ihm fiel ein, dass er gestern an dieser Stelle eine Reihe von Artikeln, die er aufheben wollte, aus alten Taschenbüchern herausgerissen hatte. Hatte er die Taschenbücher später weggeworfen? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber wahrscheinlich – auf jeden Fall konnte er sie nirgends entdecken. Auf dem Schreibtisch lag lediglich ein sauber aufgeschichteter Stapel von Taschenbüchern, die er noch nicht kannibalisiert hatte. Nun, ein Dieb, der nur zerfetzte, alte Taschenbücher stahl, war alles andere als eine ernsthafte Bedrohung, eher ein Freund und Helfer, ein willkommener Aasgeier.
Die Anspannung, die ihn bis jetzt gefangen gehalten hatte, war jetzt abgeklungen. Er spürte, dass er durstig war, holte eine kleine Flasche Ginger Ale aus dem kleinen Kühlschrank und trank sie ohne abzusetzen leer. Nachdem er den Wasserkessel auf die Kochplatte gestellt hatte, um sich einen Kaffee zu machen, zog er die zerwühlte Hälfte des Bettes flüchtig glatt und knipste die Lampe am Kopfende an. Dann goss er den Kaffee auf und trug die Kanne und die beiden Bücher, die er Cal gezeigt hatte, zum Bett und machte es sich bequem, um ein wenig zu lesen und nachzudenken.
Als es draußen dunkel
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