Herrin der Dunkelheit
verzog. Dorotea lächelte glücklich, als ob Saul ihr in den Nacken geblasen hätte. Fernando runzelte ein wenig die Stirn und richtete sich würdevoll auf.
Saul schob das Mädchen wieder von sich, hielt es auf Armeslänge und sagte: »Hör zu, Bonny, es ist eine andere Story, die ich Franz erzählen will – eine sehr langweilige Story, die nur für Schriftsteller interessant ist. Es gibt keine Geschichte von der unsichtbaren Krankenschwester. Ich habe sie nur erfunden, um meinem Argument mehr Gewicht zu geben.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Bonita und blickte ihm in die Augen.
»Okay, du hast recht«, sagte er sofort und ließ sie los. »Es gibt die Story von der unsichtbaren Krankenschwester, die die geschlossene Abteilung des St. Luke-Hospitals terrorisiert hat, und ich habe sie vorhin nur deshalb nicht erzählt, weil sie zu lang ist. Das heißt, so lang ist sie nun auch wieder nicht, aber ziemlich schauerlich. Du hast darauf bestanden, sie zu hören, deshalb hast du dir alle möglichen Folgen selbst zuzuschreiben – auch die Folgen für die anderen. Also kommt her und stellt euch um mich herum.«
Im fahlen Mondlicht, das auf seine glänzenden Augen, sein blasses Gesicht und die schwarzgelockten, schulterlangen Haare fiel, sah er, fand Franz, wie ein Zigeuner aus.
»Ihr Name war Wortly«, begann Saul mit leiser Stimme, »Olga Wortly, geprüfte Krankenschwester. Es ist natürlich nicht ihr richtiger Name; die Sache wurde zu einem Gerichtsfall, und die Polizei sucht noch immer nach ihr – aber er klingt so ähnlich wie ihr wirklicher Name.
Olga Wortly leitete die Spätschicht, von vier Uhr bis Mitternacht, in der geschlossenen Abteilung des Hospitals. Und damals gab es dort keinen Terror. Im Gegenteil, noch nie zuvor war es in der Abteilung so ruhig und friedlich gewesen wie seit ihrem Dienstantritt im St. Luke-Hospital, weil sie äußerst großzügig mit Schlafmitteln umging, so dass die Nachtschicht niemals Probleme mit Patienten hatte, die nicht schlafen konnten, und die Tagschicht hatte manchmal Mühe, sie zum Mittagessen wachzukriegen, vom Frühstück gar nicht zu reden.
Sie war nie dazu bereit, ihrer Hilfskraft – ebenfalls eine ausgebildete Krankenschwester – die Verabfolgung der Medikamente zu überlassen. Und sie bevorzugte Mixturen, weil sie der Ansicht war dass zwei Medikamente wirksamer sind als eins: Librium mit Thorazin, rotes Seconal mit blauem Amytal, Chloralhydrat mit Phenobarbital, Paraldehyd mit dem gelben Nembutal. Man merkte immer, wenn sie im Anmarsch war (unsere Fee des Schlafs, unsere dunkle Göttin der Träume), weil der durchdringende Geruch von Paraldehyd ihr stets vorauswehte; sie hatte zu jeder Zeit mindestens einen Patienten auf Paraldehyd gesetzt. Es ist superaromatisch, superalkoholisch, müsst ihr wissen – manche Schwestern nennen es Sprit –, und man verabreicht es in einem Schnapsglas, weil es jeden Dosierer aus Plastik auflösen würde, und seine Moleküle eilen ihm mit Lichtgeschwindigkeit voraus!«
Saul hatte seine Zuhörer gepackt, stellte Franz fest. Dorotea lauschte ihm genauso aufmerksam und gespannt wie ihre Tochter Bonita. Cal und Gun lächelten nachsichtig. Selbst Fernando schien gefesselt zu sein und grinste über die langen pharmazeutischen Namen. Im Augenblick war der Gehsteig vor dem deutschen Restaurant ein Zigeunerlager, und es fehlten nur die tanzenden Flammen eines offenen Feuers.
»Abend für Abend, zwei Stunden nach dem Nachtessen, machte Olga ihre Drogen-Runden. Manchmal ließ sie sich das Tablett von der anderen Schwester oder einer Hilfskraft tragen, manchmal trug sie es selbst.
›Jetzt machen wir ein schönes Schläferchen, Mrs. Binks‹, pflegte sie zu sagen. ›Hier ist Ihr Ticket ins Land der Träume. So ist es brav. Und jetzt noch diese hübsche gelbe Tablette. – Guten Abend, Miss Cheeseley. Ich habe einen Trip nach Hawaii für Sie – blau für den tiefen, tiefen Ozean, rot für den Himmel beim Sonnenuntergang. Und jetzt einen kleinen Schluck, damit sie besser rutschen. – Strecken Sie Ihre Zunge heraus, Mr. Finelli, ich habe hier etwas, das Ihnen Weisheit verleihen wird. – Können Sie sich vorstellen, Mr. Wong, dass man neun oder sogar zehn Stunden tiefer, guter Dunkelheit in eine so winzige Kapsel bannen kann? Es ist eine Zeit-Kapsel, ein Gelatine-Raumschiff, das Sie zu den Sternen tragen wird. – Sie haben gerochen, dass ich komme, nicht wahr, Mr. Auerbach?‹ Und so weiter, und so weiter.
Und auf diese Weise
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