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Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Leiber
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her, und ich fühlte, wie die Spannung um uns herum sich auflöste wie Nebel unter den Strahlen der Sonne. Irgendwie war es Cal gelungen, diese Spannung zum Schmelzen zu bringen, genauso wie Harrys Depressionen; sie hatte ihn sicher über den Berg gebracht, ohne dass er seinen großen Anfall bekam. Es kam mir damals wie etwas vor, das einem Wunder am nächsten kam, wie ich es noch nie erlebt hatte: Zauberei, Magie – aber weiße Magie.«
    Franz erinnerte bei dieser Schilderung an die Worte, die Cal an diesem Morgen zu ihm gesagt hatte, an ihre Behauptung, dass ›Musik die Macht habe, andere Dinge zu befreien und sie fliegen und wirbeln zu lassen‹.
    »Und was geschah dann?« fragte Gun.
    »Nichts eigentlich«, sagte Saul. »Cal spielte dieselbe Melodie immer wieder, in der gleichen, triumphierenden Tonart, und wir tanzten, und ich glaube, dass noch ein paar andere mitmachten. Doch Cal spielte bei jeder Wiederholung leiser, und immer leiser, bis es schließlich eine Musik für Mäuse wurde, und dann hörte sie auf und schloss sehr leise den Klavierdeckel, und wir hörten auf zu tanzen, blieben stehen und lächelten einander an, und das war alles – aber wir alle waren jetzt an einem anderen Ort als dem, von dem aus wir aufgebrochen waren. Und kurz darauf ging sie nach Hause, ohne auf das Ende der Schicht zu warten, als ob sie wüsste, dass sich das, was sie getan hatte, nicht wiederholen ließ. Wir haben später nicht viel darüber gesprochen, sie und ich, und ich erinnere mich daran, dass ich gedacht habe: ›Zauberei ist ein einmaliges Phänomen.‹«
    »He, das gefällt mir«, sagte Gun. »Ich meine die Vorstellung, dass Zauberei – und auch Wunder, wie die von Jesus, sozusagen – und auch Kunst, und natürlich Geschichte – Phänomene sind, die nicht wiederholt werden können. Im Gegensatz zur Wissenschaft, bei der es sich ausschließlich um Phänomene handelt, die wiederholbar sind.«
    Franz sagte nachdenklich: »Spannung zerschmolz … Depression löste sich auf … die Töne fliegen aufwärts, wirbeln wie Funken … Weißt du, Gun, irgendwie lässt mich das daran denken, was dein Shredbasket tut, den du mir heute morgen gezeigt hast.«
    »Shredbasket?« fragte Saul verwundert.
    Franz erklärte ihm mit wenigen Worten, dass es sich dabei um einen Aktenvernichter handele, den Gun ihm vorgeführt habe.
    »Du hast mir nichts davon gesagt«, beschwerte sich Saul.
    »Und?« Gun lächelte und zuckte die Achseln.
    »Natürlich«, sagte Franz rasch, und fast bedauernd, »ist die Erkenntnis, dass Musik eine beruhigende Wirkung auf Irre ausübt, schon seit einiger Zeit bekannt.«
    »Mindestens seit Pythagoras«, sagte Gun und nickte. »Und das ist zweitausendfünfhundert Jahre her.«
    Saul schüttelte den Kopf. »Was Cal getan hat, geht noch viel weiter zurück.«
    Es klopfte an die Tür. Gun öffnete sie.
    Fernando blickte im Zimmer umher, verbeugte sich höflich, grinste Franz an und sagte: »Schach?«

 
11
     
    Fernando war ein starker Spieler. In Lima hatte er als Meister gegolten. In Franz’ Zimmer spielten sie zwei lange, harte Partien, von denen jeder eine gewann, und das war genau die Therapie, die Franz brauchte, um seinen abendlich benebelten Verstand wieder anzukurbeln, und während dieser zwei Schachpartien wurde ihm bewusst, wie sehr ihn der Aufstieg zu den Corona Heights körperlich ermüdet hatte.
    Von Zeit zu Zeit dachte er flüchtig über Cals ›Weiße Magie‹ nach (wenn man sie so nennen konnte), und die schwarze Abart (noch unwahrscheinlicher), in die er auf den Corona Heights geraten war. Er wünschte, er hätte beide Ereignisse ausführlicher mit Saul und Gun diskutiert, bezweifelte jedoch, dass sie ihm mehr gesagt haben würden. Ach was, er würde sie ja morgen abend beim Konzert wieder sehen. Als er gegangen war, hatten sie ihn gebeten, ihnen Plätze freizuhalten, falls er vor ihnen dort sein sollte.
    Als Fernando sich verabschiedete, deutete er auf das Schachbrett und fragte: »Mañana por la noche?«
    So viel Spanisch verstand Franz. Er lächelte und nickte. Falls er morgen abend keine Zeit zum Schachspielen haben sollte, konnte er noch immer Dorotea Nachricht geben.
    Er schlief wie ein Toter und ohne Träume, an die er sich später erinnern konnte.
    Er erwachte frisch und ausgeruht, sein Verstand war klar und scharf und sehr ruhig – die Segnungen eines guten Schlafs. Die Benommenheit und die Unsicherheit des vorherigen Abends waren verschwunden. Er erinnerte sich sehr genau an alle

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