Herrin der Dunkelheit
dass sie mir einen Haufen Fragen stellte, aber sie hörte mir immer aufmerksam zu, wenn ich von ihnen sprach. Sie waren eine weitere Facette der riesigen Welt, die sie gerade zu erforschen begonnen hatte, über die sie etwas erfahren wollte, um dafür Sympathie zu entwickeln oder um sich dagegen zu wappnen. Bei ihr scheint es fast immer eine Kombination von beidem zu werden.
In jenen Tagen war ich ebenfalls sehr stark an Menschen interessiert. Seit einem Jahr arbeitete ich in der Spätschicht, hatte ziemlich freie Hand und den Kopf voller Ideen, was man ändern sollte, und einiges habe ich auch wirklich geändert. Vor allem hatte die Schwester, die die Station vor mir leitete, zu viele Beruhigungs- und Schlafmittel verabreicht.« Er grinste. »Siehst du, die Story, die ich vorhin Dorotea und Bonny erzählt habe, war nicht reine Erfindung. Auf jeden Fall habe ich die Medikationen so weit herabgesetzt, dass die Leute ansprechbar waren, ich mit ihnen arbeiten konnte und sie beim Frühstück nicht noch immer komatös waren. Natürlich wurde die Station dadurch lebhafter, unruhiger und manchmal auch schwieriger, aber ich war damals frisch und optimistisch und fühlte mich imstande, mit allen Situationen fertig zu werden.«
Er lachte leise. »Ich vermute, das ist etwas, das jeder Neue als erstes tut: die Barbiturate heruntersetzen – bis er oder sie müde und vielleicht auch etwas nervös wird und entscheidet, dass Ruhe und Frieden ein paar Schlafmittel wert sind.
Aber ich lernte meine Leute recht gut kennen, jedenfalls bildete ich mir das ein, und wusste, in welcher Phase ihres Zyklus sie sich gerade befanden; deshalb konnte ich ihre Anfälle voraussehen und behielt meine Station ganz gut unter Kontrolle.
Da war dieser junge Mr. Sloane, zum Beispiel, der an Epilepsie litt – von der petit mal-Sorte – und gleichzeitig unter schweren Depressionen. Er war gebildet und zeigte künstlerisches Talent. Wenn er sich dem Höhepunkt seines Zyklus’ näherte, begann er seine petit mal-Anfälle zu bekommen – kurze Bewusstseinsstörungen, sekundenlanges ›Wegtreten‹, Schwindelanfälle und so weiter – die immer rascher aufeinander folgten, zuletzt in Intervallen von zwanzig Minuten, manchmal sogar noch häufiger. Weißt du, ich habe oft gedacht, dass Epilepsie etwa so ist, als ob das Gehirn versuchte, sich selbst einen Elektroschock zu geben. Auf jeden Fall arbeitete Mr. Sloane sich so dem Höhepunkt entgegen, einem Anfall, der fast dem grand mal nahe kam; er stürzte zu Boden, krümmte und wand sich, tobte und schrie und verlor die Kontrolle über seine Körperfunktionen – psychische Epilepsie haben sie das genannt. Danach erfolgten seine petit mal-Attacken in immer größer werdenden Abständen, und nach einer Woche oder so war er für einige Zeit wieder in Ordnung. Er schien dies alles zeitlich genau festzulegen und eine Menge kreativer Mühen darin zu investieren – ich sagte dir bereits, dass er künstlerisches Talent besaß. Du musst wissen, dass jede Form von Irrsinn eine Art künstlerischen Ausdrucks ist, das jedenfalls ist meine Meinung. Aber so ein Mensch hat kein anderes Material als sich selbst, um damit zu arbeiten – also konzentriert er seine ganze Kunst auf sein Verhalten.
Nun, wie schon gesagt, ich merkte, dass Cal auf meine Leute sehr neugierig war; sie machte sogar Andeutungen, dass sie sie gerne kennen lernen würde. Also lud ich sie eines Abends – an einem Tag, als alle meine Leute sich in den ruhigen Phasen ihrer Zyklen befanden – ein, ins Krankenhaus zu kommen. Natürlich war das ein Verstoß gegen unsere Vorschriften, wie du dir denken kannst. Wir hatten auch keinen Mond in dieser Nacht – Neumond, oder dicht davor – Mondlicht regt die Menschen auf, und besonders die Verrückten – ich weiß nicht warum und durch was, aber es ist so.«
»He, davon hast du mir bisher noch nie etwas erzählt«, sagte Gun. »Ich meine, dass du Cal einmal ins Hospital mitgenommen hast.«
»Und?« Saul zuckte die Achseln. »Sie erschien etwa eine Stunde nach Ablösung der Tagesschicht und war blass und etwas nervös, aber voller Erwartung – und sofort nach ihrem Eintreffen schien alles in der Station schiefzugehen und aus den Fugen zu geraten. Mrs. Willis begann laut zu jammern und ihr entsetzliches Missgeschick zu beklagen – damit war sie nach meiner Berechnung erst in einer guten Woche dran –, und ihr Jammern wirkte ansteckend auf Miss Craig, die beim Schreien die Lautstärke einer mittleren
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