Herrin der Falken - 3
empfand sie echte Zuneigung. Wenn das Banshee mein Bruder ist… Einen Augenblick schwebte sie in Gefahr, in hysterisches Gekicher auszubrechen. Sollte sie ihren sanften Bruder Ruyven, den scheuen Darren, den lieben kleinen Rael in einem Atemzug mit den kreischenden Horrorwesen auf der Klippe nennen? Caryl flüsterte vor sich hin. Romilly verstand nur einzelne Wörter wie Lastenträger und Heiliger Valentin… und sie erkannte, daß das Kind betete. Sie zog ihn dicht an sich, drückte das Gesicht an seine Schulter und schloß die Augen. War es nicht vermessen, zu glauben, ihre Gedanken könnten den Geist eines Banshees erreichen – falls ein Banshee überhaupt Geist hat! Wieder mußte sie einen hysterischen Anfall niederzwingen. Niemand wußte, daß sie ein Mädchen war, sie durfte nicht weinen und schreien vor Entsetzen! Grimmig stellte sie fest, daß auch Orain und Dom Carlo Angst hatten. Wenn diese beiden Männer sich fürchteten, brauchte sie sich ihrer eigenen Furcht nicht zu schämen!
Sie schloß die Augen wieder und versuchte, ein Gebet zu formulieren, doch es fiel ihr keines ein. Lastenträger, Du weißt, was ich beten möchte, und jetzt muß ich mein Bestes tun, um uns alle zu retten, flüsterte sie. Dann seufzte sie auf.
»Wir wollen es versuchen, Caryl. Komm, verbinde dich mit mir.«
Ihr Geist wanderte hinaus. Ihres Körpers war sie sich nur noch so weit bewußt, daß sie ihn im Sattel halten und die unsicheren Schritte des Pferdes ausgleichen konnte. Weiter hinaus. Sie nahm die innere Angst der Pferde wahr, die sich dennoch aus Treue zu ihren Reitern langsam, Schritt für Schritt, vorwärtsbewegten, die Ruhe der Kundschaftervögel, die auf ihre und Caryls mentale Stimmen vertrauten. Nun spürte sie etwas Kaltes und Furchterregendes, den gellenden Schrei, der die ganze Schöpfung erbeben ließ. Fest umfaßte sie Caryls Hände, blieb und drang in den fremdartigen Geist ein.
Zuerst war sie sich nur eines schrecklichen Dranges bewußt, eines heftigen Hungers, der ihren Bauch verkrampfte, eines unablässigen Antriebs, das Warme zu suchen, das wie Licht und Heimat und Zufriedenheit war und ihren ganzen Körper mit einem fast sexuellen Verlangen überflutete. Mit dem winzigen Bruchteil, der noch Romilly war, erkannte sie, daß sie den Geist des Banshees erreicht hatte. Armes, hungriges, frierendes Ding. Es sucht nur Wärme und Nahrung wie alle Geschöpfe… Ihre Augen erloschen, sie sah nichts mehr, sie fühlte nur noch, sie war das Banshee. Einen Augenblick lang führte sie einen erbitterten Kampf, alle ihre Gedanken waren darauf gerichtet, sich auf die Wärme zu werfen, zu reißen und zu zerren und das köstliche warme Blut hervorsprudeln zu fühlen. Sie merkte, daß ihre Hände sich um Caryls warme Händchen krallten. Und dann war sie wieder menschlich und eine Frau. Sie hatte ein Kind zu beschützen, und andere hingen von ihrem Geschick ab.
Eng mit Carly verbunden, empfing sie seine tröstende mentale Berührung wie ein leises Gemurmel: Bruder Banshee, du bist eins mit allem Leben und mit mir. Die Götter haben dich geschaffen, Beute zu schlagen und zu zerreißen. Ich preise und liebe dich, wie die Götter dich gemacht haben. Es sind Tiere in dieser Wildnis, die keine Furcht kennen, weil die Götter ihnen kein Bewußtsein gegeben haben. Sucht euch eure Beute unter ihnen, meine kleinen Brüder, und laßt mich vorüberziehen. Im Namen des Heiligen Valentin bitte ich euch, tragt eure eigene Bürde und beendet mein Leben nicht vor der mir gesetzten Zeit. Gesegnet ist, wer Beute macht, und gesegnet ist, wer sein Leben einem anderen gibt…
Ich wünsche dir nichts Böses, ergänzte Romilly die stumme Ansprache des Kindes. Such anderswo dein Futter. Für eine kurze Zeit war sie ganz erfüllt von der Gewißheit, daß sie und das Pferd, das sie ritt, und der weiche Körper des Kindes in ihren Armen und der wilde Hunger des Banshees nach Nahrung und Wärme alles eins war. Eine transzendentale Woge der Freude breitete sich in ihr aus. Die roten Strahlen der aufgehenden Sonne schenkten ihr eine überquellende, ekstatische Seligkeit. Caryls warmer Körper an ihrer Brust bedeutete ein Übermaß an Zärtlichkeit und Liebe, und ein paar gefährliche Herzschläge lang dachte sie: Und wenn das Banshee mich als Beute schlägt, werde ich um so mehr eins sein mit seiner herrlichen Kraft. Aber auch ich möchte atmen und mich des Sonnenlichts erfreuen. Noch nie war ihr ein solches Glücksgefühl zuteil geworden. Die Tränen
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