Herrin der Falken - 3
mehr die Mühe, den Schmutz von den Wurzeln abzureiben; in ihrer erdigen Umhüllung schmeckten sie ihr genausogut. Einmal fand sie ein paar Birnen auf einem vergessenen Baum, und sie schmeckten so süß, daß sie in einen ekstatischen Rausch geriet. Sie aß, so viele sie konnte, kam jedoch nicht auf den Gedanken, sich die Taschen zu füllen oder sie in ihren Rock einzuwickeln.
Eines Nachts erwachte sie, und das purpurne Gesicht Liriels stand über ihr am Himmel. Es schien auf sie herabzublicken und sie zu schelten. Romilly dachte: Bestimmt bin ich wahnsinnig. Wohin gehe ich, was habe ich vor? Ich kann nicht immer so weiterwandern. Am Morgen hatte sie es wieder vergessen. Auch hörte sie von Zeit zu Zeit, nicht mit den Ohren, sondern in ihren Gedanken, Stimmen, die riefen: Romilly, wo bist du? Wer mochte Romilly sein, und warum riefen sie sie?
Am nächsten Tag gelangte sie ans Ende des Waldes und hinaus auf eine offene, wellige Ebene. Schwankende Gräser waren mit Samenkörnern bedeckt. Dies Land mußte einmal besiedelt und mit Korn bebaut gewesen sein, aber am ganzen Horizont, der sich weit von Westen bis Osten, von der Mauer des Waldes hinter ihr bis zu den Bergen erstreckte, die sich gräulich-rosa in der Ferne erhoben, war keine menschliche Behausung zu sehen. Romilly pflückte sich eine Handvoll Samen, rieb die Hülsen ab und kaute sie im Gehen.
Hoch am Himmel kreiste ein Falke, ein einzelner Falke. Er fiel, fiel, fiel mit angelegten Schwingen und setzte sich auf ihre Schulter. Er schien in ihren Gedanken zu sprechen. Sie verstand nicht, was er sagte, und doch kam es ihr vor, als habe sie diesen Falken einmal gekannt, als trage er einen Namen, als sei sie einmal mit ihm geflogen… nein, das war nicht möglich. Aber der Falke schien ganz sicher zu sein, daß sie sich kannten. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, und hielt inne. Es gab irgendeinen Grund, warum sie ihn nicht anfassen durfte… sie wünschte, sie könnte sich daran erinnern. Aber sie sah dem Falken in die Augen und fragte sich, wo sie ihn schon einmal gesehen haben mochte.
Wieder erwachte sie in der Nacht, und wieder sagte sie sich, daß sie wahnsinnig sein mußte, daß sie nicht für immer so weiterlaufen konnte. Sie hatte jedoch keine Ahnung, wo sie sich befand, und es war niemand da, den sie hätte fragen können. Wer sie war, das wußte sie jetzt. Sie war Romilly, und der Falke, der auf dem niedrigen Ast eines nahen Baumes aufgeblockt hatte, der Falke war Preciosa. Warum war er zu ihr gekommen? Wußte er, daß sie, Romilly, die Gedanken von Vogel und Pferd beeinflußte, damit sie den Menschen demütig in den eigenen Tod folgten?
Sie brauchte fünf Tage, um die Ebene zu durchqueren. Sie zählte sie, ohne nachzudenken, während das Gesicht Liriels voll wurde. Beim letzten Vollmond war sie mit Sonnenstern… sie schloß die Erinnerung aus, sie war zu schmerzlich. Es gab eine Menge der kornähnlichen Samen zu essen und Wasser zu trinken. Einmal holte der Falke einen Vogel vom Himmel herunter, setzte sich auf ihre Schulter und kreischte enttäuscht. Schaudernd betrachtete Romilly den vom Schnabel des Falken zerrissenen toten Vogel. Es war die Art des Falken, aber vom Anblick des Blutes wurde ihr schlecht. Schließlich warf sie den Vogel zu Boden und ging weiter. An diesem Abend erreichte sie den Rand eines anderen Waldes. Sie fand einen Baum, der voll war von Nüssen des letzten Jahres. Inzwischen war sie soweit zu Verstand gekommen, daß sie ihre Taschen damit füllte. Sie war sich immer noch nicht sicher, wohin sie ging, aber sie hatte begonnen, sich nordwärts zu halten, wenn sie die Wahl hatte. Lautlos strich sie durch den Wald, ruhelos vorangetrieben… sie wußte nicht, warum. Gegen Abend hörte sie über sich die Rufe von Wasservögeln, die nach Süden flogen. Sie blickte auf, schloß sich ihnen an zu atemberaubendem Flug, sah von fern einen hohen weißen Turm und das Schimmern eines Sees. Wo war sie? Die Monde leuchteten so hell in dieser Nacht. Alle vier schienen auf sie herab, Liriel und Kyrrdis rund und voll, die anderen beiden blaß und im letzten Viertel, so daß sie nicht schlafen konnte. Ihr schien, das letzte Mal, als sie vier Monde am Himmel gesehen hatte, sei etwas geschehen… nein, sie erinnerte sich nicht, aber ihr Körper schmerzte vor Verlangen und ungestilltem Hunger, und sie wußte nicht, warum. Nach einer Weile griff sie, im weichen Moos liegend, mit ihren Sinnen hinaus und fühlte einen Hunger wie ihren eigenen
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