Herrin der Falken
wiederzusehen.« Bestimmt freute sein Vater sich nicht darüber, daß sein Sohn von den Männern seines erbittertsten Feindes als Geisel genommen und der Sicherheit Nevarsins entrissen worden war. Aber auch darüber schwieg Romilly. Erst heute morgen hatte sie durch Preciosas Augen gesehen, daß sich auf der weiten Ebene von Valeron Armeen zusammenzogen und gegen die Grenzen vorrückten. Bald schon würde der Krieg das grüne Tiefland von neuem überziehen.
Den ganzen Tag ritten sie durch ein verheertes Land. Bauernhöfe waren verwüstet. Von hohen Türmen war nicht ein Stein auf dem anderen gelassen worden, es lag nur noch verstreuter Schutt umher, als hätte ein fürchterliches Erdbeben sie aus den Fundamenten gerissen. Welche Armee, welche furchtbare Waffe hatte das bewirkt? Einmal mußte Romilly sich abwenden. Als sie den höchsten Punkt eines Hügels erreichten, erblickten sie in dem Tal unter ihnen ein verlassenes Dorf. Eine merkwürdige Stille hing über dem Land, obwohl die Häuser
unbeschädigt dastanden, heiter und friedlich. Kein Rauch stieg aus den Schornsteinen auf, man hörte keine Pferde stampfen, Kinder spielen, Schmiede hämmern, Frauen beim Weben oder Waschen singen. Grabesruhe lag über dem Dorf, und jetzt erkannte Romilly ein schwaches grünliches Flackern. Die Häuser wurden von einem scheußlichen Miasma, einem fast greifbaren Nebel des Todes umspielt. Sobald es dunkel wurde, mußten sie mit einem unheimlichen Leuchten pulsieren. Ein halbverhungertes Raubtier schlich sich durch die Straßen, und vor ihren Augen wurde es langsamer, sank zu Boden und zuckte schwach, ohne einen Laut von sich zu geben. Jandria stellte kurz fest: »Knochenwasser-Staub. Wo dieses Zeug aus der Luft versprüht wird, stirbt das Land, sogar die Häuser sterben. Wenn wir hier durchritten, wären wir in wenigen Tagen nicht besser dran als die Waldkatze dort. Kehrt um – wir dürfen dem Dorf nicht zu nahe kommen. Diese Straße ist gesperrt, als würde sie von einer Horde Drachen bewacht. Nein, besser, denn es könnte uns gelingen, die Drachen zu besiegen, aber gegen das da ist kein Kampf möglich. Zehn Jahre oder länger wird das Land unter diesem Fluch liegen, und die Tiere des Waldes werden mit Mißbildungen zur Welt kommen. Einmal habe ich eine Waldkatze mit vier Augen und ein Chervine der Ebenen mit Zehen anstelle der Hufe gesehen. Unheimlich!« Sie schüttelte sich und wendete ihr Pferd. »Machen wir um diesen Ort einen möglichst weiten Bogen! Ich möchte nicht, daß mir Haar und Zähne ausfallen und sich das Blut in meinen Adern zu Molke verwandelt!«
Der weite Umweg verlängerte ihren Ritt um zwei oder drei Tage. Janni warnte Romilly, sie solle Preciosa nicht fliegen lassen.
»Kröpft sie ein Wild, das von diesem Kriegszeug vergiftet ist, muß sie sterben, aber nicht so schnell, daß ihr schlimme Qualen erspart blieben. Und äßen wir davon, würden wir zumindest Haare und Zähne verlieren. Die Wirkung des Staubs bleibt in dem Land ringsum lange erhalten und breitet sich durch die Körper der Tiere aus, die es durchwandern. Für Preciosa ist es besser, sie fastet einen oder zwei Tage, als wenn sie zu nahe diesem Ort Beute schlägt.«
So trug Romilly den Falken zwei Tage lang auf dem Sattel, und obwohl sie geschworen hatte, die Freiheit des Vogels nie mehr einzuschränken, veranlaßte ihre Sorge sie schließlich dazu, Fesseln an seine Ständer zu legen.
Ich wage es nicht, dich fliegen zu lassen, denn du könntest Wild kröpfen, das dich umbringt. Niedergeschlagen versuchte sie, in ihrem Geist ein Bild zu erzeugen, das der Falke deutlich erkennen konnte: Wild, das dieses geisterhafte, giftige Leuchten ausstrahlte. Sie war sich nicht sicher, ob ihr die Übermittlung gelungen war. Denn Preciosa hockte mißmutig auf dem Sattel, kämpfte nicht gegen die Fesseln an und hielt den Kopf unter dem Flügel versteckt. Romilly nahm den grimmigen Hunger wahr, der in ihr tobte, doch Preciosa schien bereit zu sein, die Fesseln ihres eigenen Schutzes wegen zu ertragen.
Endlich schien es, als seien sie aus dem Gefahrenbereich heraus. Janni bat jedoch alle Frauen, es ihr sofort zu melden, wenn sie begännen, sich büschelweise Haare auszukämmen, oder wenn ihre Zähne locker werden sollten. Wie sie glaube, habe man den Bogen um das verseuchte Land weit genug geschlagen. »Nur ist man bei diesem tödlichen Zeug nie ganz sicher«, warnte sie und ritt mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Einmal sagte sie zu Romilly mit einem
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