Herrin der Falken
und Romilly beobachtete, wie Preciosa abhob. Beide versuchten sie, Darren zu ignorieren, der auf der anderen Seite des Stallhofs mit rotem, verschwollenem Gesicht ungeschickt versuchte, einem fremden Falken die Haube abzunehmen. Mehr konnten sie im Augenblick nicht für Darren tun.
Romilly dachte: Wenigstens gibt er sich Mühe. Vielleicht ist das tapferer als das, was ich getan habe, als ich Vaters Befehl mißachtete. Ich habe die Gabe, ich tat nur, was natürlich für mich ist. Darren aber kämpf t gegen alles, was für ihn natürlich ist, indem er gehorcht… Die Kehle wurde ihr eng, als müsse sie weinen, doch sie schluckte die Tränen hinunter. Es würde
Darren nicht helfen. Nichts konnte ihm helfen, außer er besiegte seine eigene Nervosität. Und irgendwo in ihrem Inneren konnte sie nicht umhin, eine winzige Spur von Verachtung zu fühlen… wie war es möglich, daß er bei etwas versagte, das so leicht und einfach war?
4.
Romilly erlebte die Ankunft der ersten Mittsommergäste nicht mit. Der Tag hatte klar und leuchtend begonnen; nur eine Andeutung von Wolken verschleierte den Aufgang der roten Sonne. Drei Tage lang hatte es weder Schnee noch Regen gegeben, und überall im Hof blühten Blumen auf. Romilly setzte sich im Bett hoch und holte aufgeregt Atem. Heute wollte sie Preciosa zum ersten Mal frei fliegen lassen. Dies war die endgültige, alles entscheidende Probe für Falken und Falkner. Allzuoft schwang sich ein zum ersten Mal aufgelassener Falke in den Himmel, verschwand in den violetten Wolken – und kehrte nie wieder. Romilly wußte das gut. Sie würde es nicht ertragen, Preciosa jetzt noch zu verlieren, und bei einem Wildfang, der schon selbständig Beute gemacht hatte, war es um so wahrscheinlicher.
Aber Preciosa würde zurückkehren, dessen war sich Romilly sicher. Sie streifte das Nachthemd ab und zog sich für die Jagd an. Auf Anordnung ihrer Stiefmutter war ihr neues grünes Samtkleid verlockend bereitgelegt worden. Trotzdem schlüpfte Romilly in ein Hemd, eine alte Jacke und eine von Darren abgelegte Hose. Wenn ihr Vater böse wurde, ließ sich das nicht ändern. Sie dachte nicht daran, Preciosas erste Jagd zu verderben, weil sie sich Sorgen machen mußte, ob ihr neues Samtkleid einen Fleck bekam.
Als sie hinaus in den Korridor schlich, stolperte sie über einen vor die Tür gestellten Korb, das traditionelle Mittsommergeschenk von den Männern der Familie an Mütter, Schwestern, Töchter. Ihr Vater war immer großzügig. Romilly trug den Korb ins Zimmer, suchte sich einen Apfel und ein paar von den Süßigkeiten heraus, die auch immer vorhanden waren, und steckte alles in die Taschen – nur das, was sie für die Jagd brauchte. Sie überlegte und nahm dann noch etwas für Darren und Alderic mit. Es stand noch ein zweiter Korb da – Darrens? Und ein kleiner, ungeschickt aus Papierstreifen zusammengeklebt, den Rael im Schulzimmer vor ihren Augen zu verstecken gesucht hatte. Sie lächelte gerührt, denn er war mit einer Handvoll Nüssen gefüllt, die er, wie sie wußte, von seinem eigenen Nachtisch gespart hatte. Was war er für ein Schatz, ihr kleiner Bruder! Einen Augenblick lang war sie versucht, auch ihn zu diesem besonderen Ausritt einzuladen. Aber nach einer Minute des Nachdenkens seufzte sie und entschied sich, den Zorn ihrer Stiefmutter nicht zu riskieren. Lieber wollte sie Rael später irgendeine besondere Freude machen.
Geräuschlos ging sie den Flur hinunter. Darren und Alderic warteten schon am Eingang. Sie hatten die Hunde hinausgelassen – schließlich war die Sonne längst aufgegangen. Die drei jungen Leute gingen auf den Stall zu. Darren berichtete: »Ich habe Vater gesagt, wir würden am frühen Morgen auf die Beize gehen. Er hat dir erlaubt, seinen Falken zu nehmen, wenn du möchtest, Alderic.«
»Er ist großzügig«, antwortete Alderic und trat ruhig vor den Block.
»Welchen willst du nehmen, Darren?« fragte Romilly und setzte Preciosa auf ihr Handgelenk. Darren sah sie lächelnd an. »Du weißt ja, Schwester, daß Falken mir kein Vergnügen bereiten. Hätte Vater mich geheißen, einen seiner Vögel abzurichten, würde ich ihm gehorchen. Vielleicht zu Ehren des Feiertags hat er jedoch davon Abstand genommen, mir einen solchen Befehl aufzuerlegen.«
Sein Ton war so bitter, daß Alderic aufblickte und sagte: »Ich glaube, er wollte freundlich sein, bredu.«
»Aye. Zweifellos.« Aber Darren hielt den Kopf gesenkt, als sie zum Stall hinübergingen, wo die Pferde
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