Herrin der Lüge
der Feste hinauf, an deren Tor vorüber und auf der anderen Seite hinab in den Schatten der Schlucht.
Sie hatten erwogen, die Reisewagen zurückzulassen, aber im Dorf hatte man ihnen versichert, dass gelegentlich auch Pferdegespanne den Weg durch die Via Mala nahmen. Violante hatte daraufhin entschieden, die Kutschen vorerst nicht aufzugeben, und so knarrten und quietschten die strapazierten Gefährte jetzt an der Spitze des Zuges den Weg hinauf. Saga war unwohl dabei, hinter ihnen zu laufen, aber sie wollte den anderen ihre Unruhe nicht zeigen und widerstand dem Drang, sich bei erstbester Gelegenheit an den Wagen vorbeizuzwängen und vor ihnen herzugehen.
Sie passierten drei Wegposten auf dem Weg nach oben, gelangweilte Wächter, die erst aus ihrer Lethargie erwachten, als ihnen bewusst wurde, wie viele Menschen sich da den Fels heraufquälten. Der erste verließ seinen Posten und eilte voraus zur Burg, um seinen Herrn, den Ritter Achard von Rialt, von der Ankunft der Kreuzfahrerinnen in Kenntnis zu setzen.
Der Aufstieg dauerte eine halbe Ewigkeit, und es dämmerte bereits, als die Spitze des Zuges – die Kutschen, gefolgt von Saga, Zinder und seiner Hand voll Hauptleute – das Felsplateau erreichte. Hohes Gras bog sich im scharfen Wind, der hier oben von zwei Seiten zugleich kam: aus der schrecklichen Schlucht herauf und aus der Weite des Rheintals. Hohe Fichten und Eichen stemmten sich dem Tumult der Luftmassen entgegen.
Die Burg bedeckte den größten Teil des Felskopfes. Von außerhalb der Mauer ließ sich ein klobiger Wohnturm im Westen erkennen, augenscheinlich das Herzstück der Anlage. Im Norden, unweit des Tors, erhob sich eine schlichte Kapelle mit schmucklosem Glockenturm. Folgte man der Ummauerung weiter nach Süden, entdeckte man hinter den Wipfeln der Bäume einen Wachturm, von dessen Zinnen Gestalten mit aufgepflanzten Lanzen im Schein eines Feuers zu den Reisenden hinabblickten.
Violante ließ ihr Pferd in der Obhut einer Zofe und gab Zinder einen Wink. Saga folgte ihnen unaufgefordert. Mehrere Wachmänner empfingen sie am offenen Tor. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass ihr Rüstzeug wahllos zusammengestückelt war, nicht unähnlich der Bekleidung von Zinders Söldnern. Auch Zinder selbst schien dies zu bemerken, denn er verlangsamte seine Schritte merklich und hielt Violante zurück.
»Lasst mich das machen«, sagte er leise. »Das sind keine Männer, mit denen sich eine Edeldame wie Ihr abgeben sollte.«
»Sie sehen aus wie Ihr«, bemerkte sie spitz.
Er grinste, aber Saga fand, dass er unglücklich aussah. »In der Tat.« Mit einem kaum merklichen Seufzen trat er an der Gräfin vorbei und setzte sich an die Spitze. Mehrere seiner Männer holten auf und bildeten ein Spalier zu beiden Seiten von Violante und Saga.
Der Wächterpulk am Tor brach auf, während sie sich ihm noch näherten, und aus seiner Mitte trat ein hochgewachsener Mann mit langem schwarzem Haar. Sein Bart war kurz geschnitten, wenn auch unregelmäßig; erst von nahem erkannte Saga die vielen Narben, die wie fleischige Krater sein Kinn und seine Wangen bedeckten. Eine ungleich größere Verletzung hatte eine Kerbe in seine buschige linke Braue gefräst und setzte sich auf der Wange fort. Wie durch ein Wunder war der Augapfel unversehrt geblieben.
»Ich bin Achard von Rialt, Ritter des Bischofs und Herr dieser Burg.« Sein Blick streifte jeden von ihnen und verharrte schließlich auf Violante. Da er diese Zollstation wohl schon länger verwaltete, hatte er vermutlich ein Auge für jene, die Verantwortung trugen. Zinder als bezahlten Gefolgsmann zu erkennen fiel ihm nicht schwer, und so schenkte er dem Söldner an der Spitze der Gruppe kaum Beachtung.
»Ich hörte, Ihr seid mit einer großen Menge Pilger unterwegs«, sagte er.
Zinder wollte etwas erwidern, aber Violante kam ihm zuvor. Resolut machte sie einen Schritt nach vorn. »Kreuzfahrer, Ritter Achard. Es sind Kreuzfahrerinnen, um genau zu sein.«
»Und Ihr seid?«
»Gräfin Violante von Lerch. Eheweib des Grafen Gahmuret von Lerch und verantwortlich für –«
»Ah«, unterbrach Achard sie gedehnt, »Gahmurets Gemahlin. Ich habe von Eurem Mann und seinen Taten gehört.« Er deutete eine Verbeugung an und gab seinen Kriegern mit einer Geste zu verstehen, das Tor zu räumen. Aus dem Inneren der Festung fiel ihnen der Schein von Feuerbecken und Fackeln entgegen. Der Himmel über dem Felsplateau und den Zinnen hatte sich mittlerweile verdunkelt, Rauch stieg
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