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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wollte: Dass sich vor ihnen der schlimmste Abschnitt ihrer Reise durch das Gebirge befand. Und das erzählte sie ihr ausgerechnet jetzt, wo doch schon alle halb den Verstand verloren, bevor überhaupt eine Gefahr bestand? Was sollte erst werden, wenn diese Schlucht, dieser Böse Weg, sichtbar vor ihnen lag?
    »Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen«, entschied Saga. »Wenn die Via Mala hinter diesen Felsen liegt, erreichen wir sie spätestens in einem Tag. Wir müssen ihnen die Wahl lassen, weiterzugehen oder umzukehren.«
    Violante nickte. »Sie werden es nur akzeptieren, wenn du es ihnen sagst. Der Magdalena werden sie zuhören.«
    »Da ist noch etwas!« Beide fuhren herum, als Hufschlag neben ihnen ertönte. Zinder zügelte sein Pferd, stieg aber nicht ab. »Ich bin noch nie hier gewesen, aber ich habe von diesem Ort gehört. Und von der Festung, die den Eingang zur Via Mala bewacht.« Mit ausgestrecktem Arm deutete er in die Richtung der Felswände am schroffen Ende der Flusslandschaft. »Dort oben, ein gutes Stück hinter dem Dorf, auf dem Felssattel. Das ist sie, nicht wahr?«
    Violante nickte. »Burg Hoch Rialt. Stammsitz der Ritter von Rialt. Sie bewachen das Tor zur Schlucht und erheben Wegzoll auf ihre Durchquerung.«
    Saga runzelte die Stirn. Sie erkannte nicht mehr als einen hellen Fleck dort oben, ein vager Punkt auf dem Kamm eines unzugänglichen Felssockels. Zugleich stellte sie fest, dass es half, diese diffuse Panik abzuschütteln, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem konzentrierte, statt sich von der monströsen Präsenz der Berge überrollen zu lassen. Plötzlich konnte sie wieder klarer denken. »Wenn Wegzoll erhoben wird, sollte die Strecke durch die Schlucht einigermaßen sicher sein, oder?«
    »Ich habe anderes gehört«, knurrte Zinder.
    Violante winkte ab. »Mit dem Herrn von Hoch Rialt werde ich einig. Saga, kümmere du dich darum, dass die Mädchen wieder zu Verstand kommen. Und du, Zinder«, fügte sie schärfer hinzu, »achte auf deine Leute. Ich will nicht, dass sich so etwas wie gestern noch einmal wiederholt.«
    Der Söldnerführer riss sein Pferd herum, und einen Moment lang blieb unklar, wer das lautere Schnauben ausgestoßen hatte, das Tier oder er selbst. Saga blickte ihm nach, wie er davonsprengte und seinen Männern Befehle zuschrie.
    »Es war nicht seine Schuld«, bemerkte Saga.
    »Er hätte es nie so weit kommen lassen dürfen.« Violante wandte sich ab und ging ein paar Schritte nach Süden. Dort stand sie einsam auf einem Grasbuckel, eng in den windgepeitschten Mantel gewickelt, und starrte gedankenverloren dem Eingang zur Schlucht entgegen – und jenem winzigen hellen Fleck, der oben auf den Felsen thronte. Saga schätzte, dass sich die Burg mehrere hundert Mannslängen über dem Talboden befand, und doch ragten im Hintergrund die Gebirgsgipfel noch um ein Vielfaches höher empor. Aus der Ferne sah die Festung der Ritter von Rialt aus wie ein Spielzeug. Von hier aus war schwer nachzuvollziehen, weshalb sie Zinder solche Sorgen bereitete.
    Violantes wütender Vorwurf hatte sich auf ein Ereignis vom Vortag bezogen. Bei den Waffenübungen, die die Söldner mit den Mädchen durchführten, hatte einer der Männer eine junge Frau belästigt und sie später im Wald vergewaltigt. Das arme Ding war darüber halb wahnsinnig geworden und hatte ihrem Peiniger mit einem Stein den Schädel eingeschlagen, während er noch auf ihr lag. Der Mann war gestorben, bevor das Mädchen wie von Furien gehetzt aus dem Unterholz gesprungen war, über und über voller Blut. Sie weigerte sich zu sprechen – oder konnte es nicht mehr –, aber die anderen Söldner hatten ihren toten Kameraden schon bald darauf ausfindig gemacht und ins Lager geschleppt. Ein wütender Streit war entbrannt, und für einen Moment hatte der Gestank von Meuterei in der Luft gehangen. Zinder und Violante waren der Lage kaum Herr geworden. Erst als die Gräfin den Forderungen der Söldner nachgegeben und sich bereit erklärt hatte, das Mädchen zu bestrafen, hatten sich die Männer beruhigt. Darüber waren nun wiederum die Frauen außer sich geraten – weit mehr noch als über die Vergewaltigung, die schlimm genug gewesen war –, doch Violante hatte zähneknirschend eingesehen, dass sie mit aufgebrachten Weibern leichter fertig wurde als mit einer Horde schwer bewaffneter Krieger. Das gepeinigte Mädchen war an einen Baum gefesselt und unter den Augen aller ausgepeitscht worden – nicht von einem der

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