Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Söldner, wie diese es eigentlich verlangt hatten, sondern von Violante persönlich. Viele der Mädchen hassten sie seither beinahe ebenso sehr wie jene unter den Söldnern, die am lautesten eine Strafe für das Vergewaltigungsopfer gefordert hatten. Dass Violante nur auf diese Weise hatte sicherstellen können, dass das Mädchen die Auspeitschung überlebte, machte sich kaum jemand bewusst. Aber Saga ahnte, dass die Gräfin durch diese Entscheidung womöglich mehr aufgegeben hatte, als zu diesem Zeitpunkt abzuschätzen war.
    Trotzdem wurde auch Saga übel bei dem Gedanken an das Unrecht, das dem missbrauchten Mädchen widerfahren war. Ihr Verstand sagte ihr, dass Violante das Richtige getan hatte – nein, nicht das Richtige, aber das Beste für sie alle –, doch ihre Gefühle lehnten sich dagegen auf und wünschten der Gräfin die Pest an den Hals, ihr und der Hälfte von Zinders Halsabschneidern. Auch der Söldnerführer selbst trug – und damit hatte Violante wohl Recht – Mitschuld an der Eskalation. Insgeheim wusste er das, und Saga war aufgefallen, dass er ihr seither nicht mehr in die Augen gesehen hatte.
    Wie sich herausstellte, hatte es früher schon ähnliche Katastrophen gegeben, aber Saga musste sich eingestehen, dass sie bislang kaum Interesse für solche Vorfälle gezeigt hatte. Vieles hatte Violante von ihr fern gehalten, und mit einem Anflug von schlechtem Gewissen musste Saga einsehen, dass ein Teil der Schuld an ihrer Unwissenheit auch sie selbst traf. Sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen – ihren Selbstzweifeln, ihrer Sorge um Faun –, dass alles andere für sie nebensächlich geworden war. Genauso wie der Gedanke an Flucht für sie immer unwichtiger geworden war.
    Vielleicht, so dachte sie, geriet man eben doch immer nur an jene Menschen, die man verdiente. Violante, Zinder und sie selbst waren sich wohl in mancher Hinsicht ähnlicher, als jeder von ihnen wahrhaben wollte.
    Noch einen Augenblick länger betrachtete sie Violante, die unbewegt auf dem Grashügel stand und ihren Gedanken an den Bösen Weg nachhing. Ihre verbissene Miene, ihre ganze Haltung schrie hinaus, welchen Kampf sie mit sich selbst austrug. Saga hatte das Gefühl, niemals zuvor einem zerrisseneren und zugleich entschlosseneren Menschen begegnet zu sein.
    Erschöpft und wacklig in den Knien wandte sie sich um und stellte sich der zerstreuten Menge am Ufer. Während sie durch das hohe Gras auf die verängstigten Mädchen zuschritt, legte sie sich die Worte zurecht, mit denen sie ihnen die Angst vor den Bergen nehmen wollte.
    Tief im Inneren hoffte sie, dass auch ein Teil von ihr selbst daran glauben konnte.
    Zinder sandte eine Vorhut ins Dorf Thusis, um alle Vorräte aufzukaufen, von denen sich die Bergbauern trennen wollten. Violante ritt mit ihnen, während Saga zurückblieb. Am Ende ihrer Rede war ihr keine andere Wahl geblieben, als den Lügengeist einzusetzen, um die Mädchen von der Ungefährlichkeit des Gebirges zu überzeugen. Sie kam sich schäbig dabei vor, und einmal mehr wurde sie sich des dunklen Weges bewusst, den sie eingeschlagen hatte. Dass ihr dies ausgerechnet beim Anblick der Via Mala klar wurde, erschien ihr wie Hohn.
    Mit bepackten Maultierkarren und Satteltaschen setzten sie die Reise fort. Hinter dem Dorf blieb das Uferland noch ein kurzes Stück eben, doch der Anblick der dunkelgrauen Felswände, die sich am Eingang zur Schlucht erhoben, raubte ihnen fast ebenso sehr den Atem wie die schlimmste Steigung.
    Bald führte der Weg in engen Schlingen bergauf. Der Boden war notdürftig befestigt, teils durch uraltes Pflaster, teils durch Baumstämme, die als behelfsmäßige Treppenstufen an den steileren Stellen in den Boden eingelassen waren. Hier und da, wo der Abgrund auf einer oder beiden Seiten des Weges allzu schroff gähnte, waren Handläufe aus vermoostem Seil angebracht worden; allerdings sah Saga niemanden, der sein Leben allen Ernstes diesen halb verrotteten Stricken anvertraute.
    Der spektakuläre Felskopf, von dem aus Hoch Rialt nach Norden hin das Rheintal und nach Süden hin den finsteren Eingang zur Schlucht überschaute, war nur von einer Seite aus zugänglich. An den drei anderen fiel das schwarze Schiefergestein steil in die Tiefe ab. Saga hatte in ihrem Leben viele Burgen besucht, aber niemals auch nur eine, die so großartig und zugleich Furcht einflößend gelegen war. Wer die Via Mala durchqueren wollte, hatte keine Wahl: Er musste diesen Pfad nehmen, zum Adlernest

Weitere Kostenlose Bücher